Flüchtling greift Notärztin in Ottobrunn an: Was läuft in unserer Gesellschaft falsch?

Immer wieder werden Ersthelfer zu Zielen von Gewaltattacken. Das Problem ist bekannt, eine Lösung jedoch nicht in Sicht. Die Feuerwehr-Gewerkschaft ist entsetzt – und machtlos.
von  Christoph Elzer
Der Angriff auf eine Notärztin und einen Rettungsassistenten in Ottobrunn ist der traurige Höhepunkt einer Welle der Gewalt gegen Retter.
Der Angriff auf eine Notärztin und einen Rettungsassistenten in Ottobrunn ist der traurige Höhepunkt einer Welle der Gewalt gegen Retter. © Thomas Gaulke

München/Ottobrunn - Das Entsetzen nach der unvorstellbaren Attacke auf Rettungskräfte in Ottobrunn in Worte zu fassen, fällt schwer. Verabscheuungswürdig nennt Bürgermeister Thomas Loderer den Flaschenwurf, der einer Notärztin das Gebiss zertrümmerte und einen Rettungssanitäter am Auge verletzte. Von einem "Ereignis ungeahnter und unvorhersehbarer Gewalt" spricht ihr Chef Wolfgang Schäuble von der Münchner Feuerwehr und Innenminister Joachim Herrmann will den "Anfall blinder Aggression" hart bestrafen.

Herrmann weist aber zugleich auch daraufhin, dass dies keineswegs der erste Angriff auf Ärzte oder Einsatzkräfte der Feuerwehr war. "Harte Strafen sind aufgrund der in den letzten Jahren stark gestiegenen Zahl der Angriffe auf Rettungskräfte dringend notwendig", unterstreicht er. Siegfried Maier, Vorsitzender der Landesgruppe Bayern der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft erinnert daran, dass erst vor einem halben Jahr eine Kampagne gestartet wurde, die sich diesem immer mehr um sich greifenden Problem annimmt.

Wenn Maier die Dramatik der Situation verdeutlichen will, holt er eine Liste hervor. Darauf stehen, fein säuberlich aufgelistet und nach Datum und Ort sortiert, Attacken, mit denen Feuerwehrleute und andere Helfer 2017 im Einsatz konfrontiert wurden.

Angriffe mit Fäusten, Gullydeckel und Whiskyflasche

"3. November: Autofahrer attackiert Retter bei Kinderreanimation" taucht auf der Liste genauso auf wie "27. Juli: Mit Gullydeckel Scheiben an Notarzteinsatzfahrzeug eingeschlagen" und "1. Januar: Feuerwehrmänner auf Weg zum Einsatz zusammengeschlagen". Die Liste ist erschreckend und dabei ist sie nur ein Auszug. Alle Fälle des vergangenen Jahres hätten wohl kaum auf eine einfache Din-A4-Seite gepasst.

Der Angriff vom 22. Juni dürfte der zweifelhafte Höhepunkt dieser langen Liste sein. Die Verletzungen der Notärztin stellen sicherlich eine neues Maß der Gewalt dar, sie sind aber keineswegs ein isolierter Zwischenfall. Siegfried Maier kann von Faustschlägen berichten, vom absichtlichen Anfahren mit dem Auto und auch Angriffe mit Raketen, wie sie nach der Silvesternacht für Schlagzeilen sorgten, sind für ihn nichts Neues.

Irrer Angriff in Ottobrunn: So kam es zur Tat, so geht es den Opfern"Ich erlebe oft, dass Einsatzkräfte nach solchen Vorfällen an der Menschheit zweifeln", so Maier, der sich nun erneut fast schon verzweifelt an die Öffentlichkeit wendet und fragt: "Was läuft in unserer Gesellschaft falsch? Ist es normal, dass einem Hilfe so gedankt wird?" Auch Janina Lara Dressler, Kriminalwissenschaftlerin und Juristin, die für ihre Doktorarbeit 1.600 Feuerwehrleute und andere Rettungskräfte zu Übergriffen während ihrer Einsätze befragt hat, sieht eine dramatische gesellschaftliche Tendenz: "Was mich überrascht hat, war der Anteil der Fälle, die völlig überraschend kommen. Einsatzkräfte haben oft überhaupt keine Möglichkeit zu reagieren oder deeskalierend einzugreifen. Wenn man zum Beispiel auf einmal von hinten gewürgt wird, wird es sehr schnell richtig gefährlich. Was ich auch heftig fand: Es gab Einsatzkräfte, die sagten, in ihrer Stadt gibt es Gebiete, in die fahren sie ohne Polizeischutz nicht mehr."

Uniform alleine reicht schon, um manche aggressiv zu machen

Sie attestierte im AZ-Interview: "Die Uniform alleine reicht schon, um manche aggressiv zu machen." Dieser Verrohung steht ein bürokratischer Aufwand gegenüber, der oft eine juristische Gegenwehr der notorisch am Limit arbeitenden beziehungsweise überarbeiteten Rettungskräfte im Keim erstickt: "Anzeigen sind sehr aufwändig und Feuerwehrleute sehen leider oft keine großen Erfolgsaussichten, weil sie wissen, dass die meisten Verfahren in solchen Fällen eingestellt werden", so Dressler. Das bestätigt auch der Gewerkschaftler: "Staatsanwaltschaften lassen immer wieder Anklagen fallen, für die Betroffenen ist das wie ein zweiter Schlag ins Gesicht", so Maier.

Als die Gewerkschaft im Januar das erste Mal Alarm schlug und der Kampagnenfilm "Respekt? Ja, bitte!" veröffentlicht wurde, war die Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation groß. Nun sagt Maier: "Seit Januar ist viel Zeit vergangen. Für die Einsatzkräfte hat sich nicht viel geändert. Wir kommen um zu helfen und werden zur Zielscheibe von Aggressionen." Er appeliert: "Diese Helfer brauchen Hilfe! Sie müssen geschützt werden. Es muss jetzt gezeigt werden, dass die die helfen wertvoll sind. Feuerwehr und Rettungsdienst kommen immer dann, wenn sonst niemand mehr da ist. Sie riskieren ihr Leben um anderen zu helfen und sie setzen ihre Gesundheit aufs Spiel, jeden Tag und jede Nacht."

Maier geht davon aus, dass der Täter von Ottobrunn juristisch belangt wird. Der Vorfall ist einfach zu massiv, um im Sande zu verlaufen. Was das grundlegende gesellschaftliche Problem der zunehmenden Gewalt gegenüber Rettungskräften angeht, ist allerdings wohl weniger Optimismus angebracht.


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