Erinnerungszeichen in München: Das Handy führt zu NS-Schicksalen
München - An den Gedanken wird man sich wohl nie gewöhnen: Dass Menschen enteignet, verschleppt und ermordet wurden, wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, einer Krankheit oder Behinderung, ihrer sexuellen Ausrichtung und aus vielen weiteren willkürlichen Gründen.
NS-Zeit: Existenzen wurden ausgelöscht - aber nicht vergessen
Etwa 10.000 Frauen, Männer und Kinder aus München wurden von den Nazis verfolgt und verloren ihr Leben. Sie hatten womöglich in den Wohnungen gelebt, in denen wir heute wohnen.
Sie hatten Läden und Geschäfte in den Straßen, über die wir täglich laufen. Sie arbeiteten an Universitäten, in Ämtern und Betrieben, die es heute noch gibt. Ihre Existenzen wurden ausgelöscht - doch nicht vergessen.
Um diese erschütternden Einzelschicksale wieder verstärkt in das Bewusstsein zu rufen, wurden Erinnerungszeichen in der ganzen Stadt platziert, mittlerweile sind es über 110 solcher vergoldeten Wandtafeln und Stelen. Sie sind mit Foto, Namen und Lebensdaten der Betroffenen versehen und befinden sich meist an den Orten, an denen sie gelebt haben.
Neue Webapp führt uns zu Erinnerungszeichen
Die Erinnerungszeichen sind die Münchner Alternative zu den Stolpersteinen, die am Boden verlegt werden und deshalb in der Kritik stehen. Sie gibt es in München nur auf Privatgrund. Die Erinnerungszeichen werden auf Augenhöhe angebracht.
Nun können Interessierte mehr Hintergründe über die Schicksale der Menschen auf den Zeichen erfahren. Mit Hilfe einer neuen Webapp, die am Donnerstag, am Internationalen Holocaust-Gedenktag, veröffentlicht wurde. Auf der Seite map.erinnerungszeichen.de kann man eine Karte aufrufen, die alle Adressen anzeigt, wo Erinnerungszeichen angebracht sind.
Klickt man auf die Symbole in der Karte, kann man die Biografien der Betroffenen sehen, meist auch ein Foto. Die App besitzt eine Routenfunktion und navigiert die User zu den Erinnerungsorten. Eine Suche über den Namen oder die Adresse ist auch möglich.
Am Donnerstag wurden zwei weitere Erinnerungszeichen in der Haimhauserstraße in Schwabing eingeweiht, zum Gedenken an das Ehepaar Flora und Siegfried Wilmersdörfer. Die Zweite Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (Grüne) nahm die Einweihung zusammen mit Ellen Presser von der Israelitischen Kultusgemeinde vor.
Habenschaden betont, dass die Auseinandersetzung mit den Schicksalen in heutigen Zeiten besonders wichtig ist: "Anhand der vielen Einzelschicksale wird deutlich, wie unvermittelt Mitbürger und Mitbürgerinnen Verfolgte wurden. Alles begann mit der Stigmatisierung und Ausgrenzung von Gruppen. Wehren wir uns also, wenn heute menschenfeindliche Ansätze ihren Weg in die Mehrheitsgesellschaft suchen!"
Die Geschichte von Flora und Siegfried Wilmersdörfer
Flora Wilmersdörfer kam am 3. Juli 1885 in Giebelstadt zur Welt. Siegfried Wilmersdörfer wurde am 14. März 1879 in Regensburg geboren. 1911 heirateten sie. Das Paar zog nach Landshut, wo sie im folgenden Jahr eine Tochter bekamen. Siegfried Wilmersdörfer war Kaufmann und führte ein Geschäft. Während des Ersten Weltkriegs diente er an der Front.
1919 eröffnete er dann ein Textilwarengeschäft in Amberg, das er 1922 nach München in die Senefelderstraße verlegte. Von 1925 bis 1935 wohnte die Familie in der Haimhauserstraße 19 (heute 1). Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich das Leben der jüdischen Familie grundlegend.

Im September 1938 musste die Firma weit unter Wert verkauft werden, das Vermögen wurde eingezogen. Das Ehepaar versuchte zu flüchten und beschaffte sich Visa für Kuba. Im Mai 1939 verließen Flora und Siegfried Wilmersdörfer Deutschland an Bord der "MS St. Louis". Doch die Flucht misslang.

Ein Dekret des kubanischen Präsidenten verbot den über 900 jüdischen Passagieren die Einreise. Nach einer einmonatigen Irrfahrt landeten Flora und Siegfried Wilmersdörfer in Brüssel. Dort fanden sie jedoch keine Sicherheit. Belgien wurde 1940 von den Nationalsozialisten besetzt. Siegfried Wilmersdörfer verstarb am 1. Mai 1941 an einem Herzinfarkt. Flora Wilmersdörfer hielt sich versteckt, wurde schließlich jedoch verraten und verhaftet. Am 31. Juli 1943 wurde sie nach Auschwitz gebracht und vermutlich direkt nach der Ankunft ermordet.
Die Geschichte von Dirk Koedoot
Dirk Koedoot wurde am 8. Februar 1925 im niederländischen Ijsselmonde (heute Barendrecht) geboren. Wenig später zog seine zwölfköpfige Familie nach Rotterdam. Eigentlich wollte Dirk Matrose werden, doch sein religiöser Vater befürchtete, dass er auf See nicht fromm bleiben könne. Also wurde er Bäcker.
Bereits kurz nach seinem 18. Geburtstag schickte ihn das Arbeitsamt Rotterdam zum Arbeitseinsatz nach Deutschland. Am 20. Februar 1943 kam er in München an. Er gehörte zu den rund 2600 niederländischen Frauen und Männern, die während des Zweiten Weltkriegs in München Zwangsarbeit leisten mussten.

Nach einiger Zeit beschloss er zu fliehen. Doch nahe der niederländischen Grenze ergriffen ihn deutsche Soldaten und brachten ihn zurück nach München. Er landete im Arbeitserziehungslager (AEL) München-Moosach in der Wildstraße (heute Bingener Straße/Triebstraße). SS-Männer bewachten das mit Stacheldraht umzäunte Lager.
Die Gefangenen mussten Häftlingskleidung tragen und schwerste Zwangsarbeit verrichten. Dirk Koedoot versuchte, erneut zu fliehen, wurde aber gefasst. Zur Strafe musste er 24 Stunden lang in kaltem Wasser stehen. Schwerkrank wurde er in ein Hospital eingeliefert. Er starb am 20. Oktober 1943 an einer Lungenblutung, offenbar in Folge der Gewalt und Folter, der er ausgesetzt gewesen war.
Die Geschichte von Theodolinde Diem
Theodolinde Diem, genannt Thea, wurde am 21. März 1908 in München geboren. Ihr Vater Karl war Schneider, ihre Mutter Amalie stammte aus dem Bayerischen Wald. Thea hatte zwei ältere Schwestern Irma und Ella sowie einen jüngeren Bruder Heinz, der im Alter von sieben Jahren starb. Die Familie lebte in Nymphenburg, zuletzt in der Romanstraße 74.

Die drei Mädchen besuchten die Höhere Mädchenschule der Englischen Fräulein in Pasing. Theas Schwestern erzählten später, dass sie nicht nur die Hübscheste und Klügste, sondern auch die Flinkste der drei Mädchen war. Sie hatte zum Beispiel ihre Hausaufgaben oft schon in der Schule erledigt. Mit etwa 19 Jahren hatte Thea erstmals epileptische Anfälle. Ihre Mutter war überfordert, ihre Schwestern hatten bereits eigene Familien.
Also beschlossen die Eltern im Dezember 1927, Thea in die Assoziationsanstalt Schönbrunn bei Dachau zu geben, wo sie sie regelmäßig besuchten. Am 9. April 1941 wurde Thea in die Heil- und Pflegeanstalt Egling-Haar gebracht und von dort in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Wahrscheinlich wurde sie noch am gleichen Tag oder einige Tage später vergast. Offiziell teilte man ihrer Familie mit, dass sie an einer Lungenentzündung gestorben sei.
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