Erinnerungen an 1945: Unsere Freunde, die Amis

München - Sie waren die Sieger, das war allen Münchnern klar. Militärisch gesehen waren sie die Eroberer. Feinde, die aus der Fremde kamen, waren sie allenfalls noch für die Unbelehrbaren. Für viele Leidtragende der Nazi-Tyrannei und des verheerenden Krieges waren sie die Befreier.
Sie waren nicht zuletzt Richter und Rächer, die Kriegsverbrecher und Obernazis bestrafen sollten. Und sie waren auch unsere Erzieher, die vor allem der NS-indoktrinierten Jugend unter dem Motto "Re-Education" die Demokratie beibringen sollten.
Amis in München: Erst einmal Straßen umbenennen
Eine ihrer ersten Maßnahmen in München war die Umbenennung von rund 100 Straßen. Und doch dauerte es – jedenfalls für uns Jugendliche – gar nicht lange, bis die Bomben- und Granaten-Schützen von gestern auch unsere Freunde und Helfer wurden. Unsere "Amis"!
Dieses gängige Kosewort für die amerikanischen Besatzungssoldaten erinnerte uns Halbstarke an den Französisch-Unterricht sowie an eine völlig unpolitische UFA-Schnulze: "Du hast Glück, bei den Frau'n, Bel Ami".
Das ebenfalls von Washington an die Soldaten ausgegebene Gebot der "Non-Fraternization", der Nichtverbrüderung, verlor bald seine Geltung. Besonders für die zahlreichen "Froileins", die sich so schnell wie möglich einen Boyfriend angelten, welcher dann mit seinen Gaben aus dem PX-Laden, dem amerikanischen Kaufhaus in der Prinzregentenstraße, oder aus der im Bürgerbräukeller eingerichteten Soldatenkantine ganze Familien ernährte.
Die Musik führt Freund und Feind zusammen
Was uns zusammenführte, was Feinde zu Freunden machte, war in erster Linie die Musik, die sie mitbrachten: Der Jazz, den wir bis zum Mai 1945 nur aus einem "Feindsender" erlauschen konnten, verbotswidrig natürlich. "Lantschen in Mantschen" (eine Verballhornung von Lunch und München) klang es jeden Tag um 12 Uhr aus dem AFN, dem American Forces Network.
Und sehr bald erschienen sie auch leibhaftig: der immer verschmitzte und verschwitzte Louis Armstrong, die göttliche Ella Fitzgerald, der elegante Duke Ellington, der zappelige Lionel Hampton, der ziegenbärtige Dizzy Gillespie, der leise Dave Brubeck und andere Kings der schwarzen Klänge.
Dass diese Befreiungsmusik aus Raumgründen meist in einem aus der NS-Zeit übriggebliebenen Betonkubus ertönte, im Kongresssaal des Deutschen Museums mit Mosaiken germanischer Riesen an der Wand, das war allerdings etwas seltsam.
Im halb zerstörten UFA-Palast große US-Stars auf der Leinwand
Hot und Swing vom fast Feinsten war immerhin auch für zivile Preise zu haben. Haidhausen entwickelte sich zum Münchner Harlem. Der Hinweis "Off limits for Civilians" und häufige Kontrollen weiß behelmter Military Police schreckten uns Stenze kaum ab. Mein Stammlokal wurde das "Birdland", wo sich die schwarzen "GIs" von jungen, bald berühmten deutschen Combos ins ferne Dixieland entführen ließen.
Auch das legendäre Hollywood war nahe gerückt. Wenngleich die ersten Importe von US-Filmen etwas banal und kitschig rüberkamen – die drei noch betriebsfähigen Kinos wurden dem Ansturm kaum Herr. Im halb zerstörten UFA-Palast erlebten wir die großen Stars und gewöhnten uns dabei an den American Way of Life.
Wir fanden es toll, wie Cary Grant, Gary Cooper, John Wayne oder Errol Flynn wildeste Abenteuer bestanden, wie Superstar Rita Hayworth sie nach Sevilla, Shanghai oder Trinidad entführte, wie die bezaubernde Doris Day sie träumen ließ, wie Sonja Heni eistanzte oder Fred Astaire steppte und zugleich sang. Wenn gar noch Charlie Chaplin im Goldrausch seine Schuhsohlen kochte oder als großer Diktator den Globus balancierte, dann konnte man sich schier totlachen.

Der Unterernährung kommt man mit Schulspeisungen bei
Im Luitpold lief aber auch, fünf Wochen lang, der von amerikanischen Kameramännern in Konzentrationslagern gedrehte Doku-Film "Todesmühlen"; 130.000 Besucher waren erschüttert.
Da 85 Prozent der Münchner Schulkinder unterernährt und bei 20 Prozent bleibende Schäden zu erwarten waren, sorgten unsere Amis für eine tägliche Schulspeisung. In den großen Milchkannen befand sich meist ein gezuckerter, manchmal mit Dörrobst verfeinerter Maisbrei, den ein deutscher Politiker sehr zum Ärger der Amis als "Hühnerfutter" schmähte.
Im September 1946 trafen dann aus der US-Enklave Bremerhaven die ersten Care-Pakete in Bayern ein. Sie enthielten Corned Beef, Cornflakes, Erdnussbutter und weitere ungewohnte Nahrungsmittel.
Die Militärregierung bietet viel für die jungen Münchner
Vielen Deutschen half diese "Cooperative for American Remittances to Europe", den folgenden eiskalten Hungerwinter zu überleben. Die amtlich zugeteilten Kalorien waren in München auf die Hälfte der Vorkriegszeit reduziert – und am Stadtrand wurden minus 19 Grad Kälte gemessen, 68 Wärmestuben eröffneten.
Eine eigene Division der Militärregierung, die sich unter General Walter J. Muller in der ehemaligen Reichszeugmeisterei einquartiert hatte, initiierte und förderte Projekte für die Jugend. In der Hauptsache veranstalteten diese "German Youth Activities" gemischte Konzerte, wobei oft gewesene UFA-Stars wie die umschwärmte Margot Hielscher oder die immer noch pfeifende Ilse Werner auftraten.
Special Officer: Ohne Lizenz geht nichts
Musikbands, Sprachkurse, Kunststudios, Sportclubs lockten obendrein die Halbstarken von der Straße weg. Das ehrgeizigste GYA-Modell war die "Junge Stadt": Regelmäßig trafen sich Vertreter von neu gegründeten Jugendorganisationen im Rathaus, um parlamentarische Demokratie einzuüben. Dass als erste politische Partei am 5. November die KPD lizenziert wurde und am 25. November die SPD, deutete darauf hin, dass unsere ersten Amis einer linksliberalen Politik gegenüber keineswegs abgeneigt waren. Das änderte sich erst 1947 mit der fanatischen Verfolgung "unamerikanischer Umtriebe" in der McCarthy-Ära, von der auch Chaplin, Bert Brecht und Thomas Mann betroffen waren.
Die Amis - sie waren jahrelang die neuen Machthaber in Bayern, voran Generalmajor Walter Muller als bayerischer Militärgouverneur. Sie bestimmten über Stadtrat und Landesregierung, Presse und Rundfunk, Theater und Verlage, politische Parteien, Film, Kunstsammlungen, Jugend, Kirchen, Hochschulen. Für jede dieser Sparten war ein höherer Special Officer verantwortlich. Ohne deren Special Permit und Lizenz ging nichts. Die meisten dieser Kontaktleute sprachen fast akzentfrei Deutsch, einige waren einst als politisch oder rassistisch Verfolgte emigriert.
Einer von denen war Ernst Langendorf. Als Chief of Press Branch war der Ex-Hesse maßgebend am Aufbau einer demokratischen bayerischen Presse beteiligt, beginnend mit der Lizenzierung der Süddeutschen Zeitung am 1. Oktober 1945, sowie an der eher informativen als propagandistischen Strategie des später in München stationierten US-Senders Radio Free Europe und an der Gründung des Internationalen Presseclubs. Auch meine German Press Card, also der Presseausweis, trägt Langendorfs Unterschrift.

Am Harthof leben 15.000 amerikanische Soldaten
Pflichtlektüre für München und weit darüber hinaus war seit dem 18. Oktober 1945 die von der Militärregierung herausgegebene "Neue Zeitung"; sie behauptete noch lange ihr Niveau und eine sagenhafte Auflage, war eines Tages aber neuen Politikern in Washington nicht mehr geheuer. In der Redaktion im früheren Druckhaus der NS-Propaganda arbeiteten Deutsche, die einen sauberen und guten Ruf hatten oder noch bekommen sollten: Erich Kästner, Alfred Andersch, Walter Kolbenhoff, Hildegard Brücher, Robert Lembke und viele andere Star-Publizisten.
Natürlich traten die Besatzungs-Amis nicht nur als die Guten in Erscheinung. So waren GIs aller Dienstgrade verwickelt in Schlägereien, Schwarzhandel und das dirty Business mit Girls.
Am Harthof, wo 15.000 Soldaten in den alten SS-Kasernen stationiert waren, entwickelte sich ein böser Markt: Halbwüchsige Münchner handelten mit Dollars, Zigaretten, Schnaps und minderjährigen Mädchen; der 16-jährige Schüler Willy Sieber wurde gar von einem Amerikaner umgebracht. Bei Dachau und nördlich des Starnberger Sees lieferte sich eine Wilderer-Bande in US-Uniformen mit "Texas-Jeep" ein Feuergefecht mit der noch unterbewaffneten bayerischen Polizei.
Eine amerikanische Idee war auch das legendäre "Rama dama", die große Schutträumung durch Tausende von Bürgern. George Godfrey der Chef der US-Zivilverwaltung, hatte das dem Oberbürgermeister Thomas Wimmer vorgeschlagen. Mit dem Hintergedanken, dass vor allem ehemalige NS-Parteigenossen dabei ein Stück Sühne leisten sollten.
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