75 Jahre Befreiung: Ausgangssperre, Mundraub und ein Bad in Hitlers Wanne

75 Jahre Befreiung: AZ-Reporterlegende Karl Stankiewitz über die ersten Wochen nach der Ankunft der Amerikaner – ohne Polizei und mit viel Mundraub.
Karl Stankiewitz |
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Kaum wiederzuerkennen, aber ein bisschen Leben kehrt zurück: der zerstörte Hauptbahnhof kurz nach der Befreiung 1945.
Stadtarchiv München Kaum wiederzuerkennen, aber ein bisschen Leben kehrt zurück: der zerstörte Hauptbahnhof kurz nach der Befreiung 1945.

München - Am Dienstag nach der Ankunft der amerikanischen Soldaten, dem 1. Mai 1945, wurde in München keineswegs gefeiert: weder die Befreiung von der Nazi-Herrschaft, noch der Tag der Arbeit. Doch ich sah auch, dass nicht wenige Menschen jubelten. Es handelte sich in der Masse um gewesene "Fremdarbeiter": Russen, Ukrainer, Polen und all die Tausenden, die aus ihren 286 Lagern in und um München befreit worden waren.

An diesem Tag Null herrschte ungewöhnliche Kälte bei teils leichtem Schneefall – und es herrschte Chaos. Nichts gab es mehr – nach 2074 Tagen Krieg: keine Nachrichten, keine Verwaltung, keine amtliche Anordnung, keinen Verkehr, vor allem auch keine Polizei. Gottlob auch keine Bomben und Sirenen, keine Todesangst. Dafür gab es Hunger, Not und Ungewissheit über das, was die nächsten Tage bringen würden. Gerüchte gingen durch die Geisterstadt. Zum Beispiel von einer bevorstehenden "Bartholomäusnacht", in der Männer erschossen und Frauen geschändet würden. Doch die Sieger hatten wahrlich anderes zu tun.

Die Amerikaner können gegen die Masse der Plünderungen nichts tun Läden, Ämter und Gasthäuser waren schon seit Tagen geschlossen. Von 18 Uhr abends bis 6 Uhr morgens war "Curfew", wie Anschläge verkündeten, also Ausgangssperre. Als der Morgen graute, wurden wir Besiegten schier magnetisch auf die Straßen getrieben, wo Männer und Frauen mit Karren und Eimern unbekannten Zielen zustrebten.

Lebensmittel, Babypuppen und Klobürsten geplündert

Fabrikbesitzer Karl Wieninger, der sich fünf Minuten vor Zwölf zu mutigem Widerstand aufgerafft hatte, erinnerte sich: "Ein verhältnismäßig großer Teil unserer Bevölkerung missverstand die Befreiung von nationalsozialistischem Terror gründlich. Kaum waren die Amerikaner einmarschiert, begannen viele Münchner, gewerbliche Lagerräume gewaltsam aufzubrechen, Auslagescheiben einzuschlagen, Schutzgitter zu demontieren und alles, was nicht niet- und nagelfest war, zu plündern. An den Stätten der Plünderungen herrschten schauderhafte Zustände. Im Arzberger Keller wurde eine Frau mit einer Flasche erschlagen, im Löwenbräukeller sind zwei Personen im Gedränge zu Tode getreten worden. Ohne Auswahl wurde alles gestohlen: Metallwaren, Textilien, Hygieneartikel, vor allem Lebensmittel, Trinkbares von Wein, Bier und Spirituosen bis zum Mineralwasser. Auch die unsinnigsten Artikel wurden verschleppt. So kannte ich einen alten Mann, der trug einen großen Karton mit Babypuppen heim; ein anderer ließ 24 Klosettbürsten mitgehen."

Die wenigen, ortsunkundigen Männer der Military Police konnten gegen die Masse der Plünderer wenig ausrichten. Immerhin versuchten Angehörige der "Freiheitsaktion Bayern", eine Art Bürgerschutz aufzubauen, die Besatzer erlaubten ihnen allerdings nur weiß-blaue Armbinden und Schlagstöcke, die sie nur zur Notwehr einsetzen durften. Sehr ergiebig waren die Beutezüge der Bürger eh nicht. So meldete Wieninger dem Pfarramt Sendling die Übergabe von 15 Paar Filzstiefeln.

"Plündern als Mundraub oder als Vorsorge für noch schlechtere Tage"

An den wilden 1. Mai und die folgenden Tage erinnert sich auch der Schreiber dieser Erinnerung. Als Sechzehnjähriger war ich selbst damals – ohne Skrupel und nicht ganz ohne Erfolg – handgreiflich dabei, ebenso wie Frau Oberstleutnant von nebenan und Frau Rechtsanwalt vom Parterre. Die Isar entlang mischte ich mich in einen Haufen von Ausländern. Es ging in die Spirituosenfabrik Riemerschmied auf der Praterinsel sowie zum – historisch sehr belasteten – Bürgerbräukeller am Rosenheimer Berg. Da ich zwei jüngere Geschwister und einen Opa zu versorgen hatte, betrachtete ich das Plündern nur als Mundraub oder als Vorsorge für noch schlechtere Tage, die denn auch nicht auf sich warten ließen.

Zitat aus einem meiner früheren Berichte: "Die großen, dunklen Kellergewölbe der Brauerei waren voller Schätze. Wein, nicht etwa Bier, floss in Strömen aus Fässern und füllte den Boden vielleicht einen halben Meter tief. Leichen schwammen in der roten Flut. Hatten sich diese Männer totgesoffen oder waren sie in der Panik der Plünderung ertrunken? Nur schnell raus aus dem Inferno. Irgendwo griff ich mir einen großen Laib Käse und rollte ihn die Isar lang, er wurde mir aber bald beim Zwangseinsatz auf einem Bauernhof aus der Knechtskammer geklaut. In einem Geschäft am Isartorplatz war gerade noch ein Schubladen voller Puddingpulver zu erbeuten."

"Amerikaner gönnten uns eine 'gute Zeit'"

Ernst Langendorf, der amerikanische "Vorreiter" in München, wurde bei der Suche nach dem früheren Oberbürgermeister Karl Scharnagl auf einen Menschenauflauf vor einer Weinhandlung in der Inneren Wienerstraße (heute Einsteinstraße) aufmerksam: "Das Klirren von zerbrochenen Flaschen, das dumpfe Geräusch von Schlägen auf Weinfässer und wüstes Geschrei drang durch die Kellerlöcher ... Da näherte sich ein Jeep der Militärpolizei. Wir hielten ihn an und machten auf die Plünderung aufmerksam. Doch sie lachten nur und sagten: Let them have a good time after so many years of war. Da merkte ich, dass die Militärpolizisten selbst sehr weinselig waren. Sie gönnten uns also eine ,gute Zeit’ nach so vielen Jahren des Krieges."

Auch für unsere Befreier aus Übersee war der erste Tag nach Eroberung der "Wiege der Nazibestie" (so der amerikanische Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower) kein Tag zum Feiern. Der eigentliche Victory Day folgte ja erst am 8. Mai mit der bedingungslosen deutschen Kapitulation (das Datum gilt in einigen Ländern nach wie vor als Feiertag). Münchens Amis hatten natürlich wichtige Aufgaben, außer der Quartiersuche. Sie mussten zum Beispiel ihren eigenen Straßenverkehr regeln, wo offenbar der Tod drohte (am Isartor hing gleich ein Transparent: "Death is so permanent"). Auch mussten sie Zehntausende von deutschen Kriegsgefangenen bewachen beim letzten Marsch durch Münchens Straßen zu provisorischen Camps.

Ein "ausgedehntes Bad" in der Badewanne von Adolf Hitler

Viele GIs (wir schulfreien Oberschüler übersetzten diesen Ausdruck allzu wörtlich als "Regierungsausgaben") nutzten gleich die ersten kampflosen Tage privat für eine Art Sightseeingtour. Sie bestand in der Besichtigung von Nazi-Relikten und nicht zuletzt in der Sammlung einschlägiger Souvenirs; Nazi-Reliquien wie etwa Parteiabzeichen waren besonders gesucht. Ein bevorzugtes Ziel derartiger Stadtrundgänge war das sogenannte Hitler-Haus am Prinzregentenplatz, wo das 157. Regiment einen Kommandoposten hatte (heute Polizeiinspektion 22).

Neun kleinbürgerliche Zimmer hatte der großdeutsche Führer in dem altmodischen Eckhaus seit 1929 bewohnt, erst zusammen mit seiner 19-jährigen Halbschwester Geli, später mit Eva Braun, der kurz vor dem Ende noch angetrauten Gehilfin seines Leibfotografen Heinrich Hoffmann. Die Miete zahlte anfangs der Münchner Buchverleger Hugo Bruckmann.

Der auf Ozeandampfer spezialisierte Architekt Paul Ludwig Troost schuf die Einrichtung. Nicht besonders geschmackvoll, aber teuer und solid erschien sie dem US-Propagandaoffizier Ernst Langendorf. Er sah ein paar abgeschabte Möbelstücke, zwölf Exemplare der Erstausgabe von "Mein Kampf" sowie die Büste eines unbekannten Mädchens. Lee Miller, die mutige Reporterin in Uniform, die früher mal Fotomodel war, machte in der Wohnung ebenfalls Entdeckungen.

So wohnte Hitler

In der großen Eingangshalle standen Schränke mit Kristallglas und Porzellan. Wäsche und Silber, alles mit Hakenkreuz und den Initialen A.H. Es gab einen Gummibaum und einen schwarzen Gipsadler mit angelegten Flügeln. Die Bibliothek war uninteressant, da alles von persönlichem Wert entfernt worden war. Das Schlafzimmer war mit Chintz tapeziert und das Bett mit dem gleichen Stoff bezogen. Der Nachttisch hatte eine Druckknopfvorrichtung, mit der das Dienstmädchen oder die Wache gerufen werden konnten ... Das Badezimmer nebenan hätte aus einem Einrichtungskatalog stammen können. Verbunden war es mit einem Einbettzimmer, in dem enge Freunde des Führers übernachteten, wenn sie in der Stadt waren.

Auch Lee Miller nutzte Hitlers "physische und geistige Heimat" – diese war allerdings im Krieg meist leer gestanden – als Absteige. Sie schlief in Eva Brauns seidigem Bett. Und nahm in Hitlers Badewanne "ein ausgedehntes, lange überfälliges Bad, während ein wutschnaubender Leutnant mit Seife und Handtuch in der Hand an die verschlossene Badezimmertür klopfte" – so berichtete ein weiterer Augenzeuge der Befreiung, der "LIFE"-Fotograf David Sherman. Er hat die sonderbare Szene sogar abgelichtet.

Historisches München: Rechts der Isar - 1948 bis 1966


Vom Autor ist kürzlich erschienen: "Münchner Meilensteine" (Verlag Attenkofer)

Lesen Sie auch: Als das zerstörte München endlich vom Krieg befreit wurde

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