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Ellen Ammann: Die Mädchenretterin der Münchner Bahnhofsmission

Vor 125 Jahren hat Ellen Ammann die Bahnhofsmission gegründet, um junge Frauen vor dem Bordell zu bewahren. Die gläubige Katholikin war schon 1897 eine moderne Streetworkerin.
Nina Job
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Tierlieb war die Frauenrechtlerin Ellen Ammann auch. So ließ sie sich 1892 ablichten: mit Papagei und Dackel.
Archiv Erzbistum München und Freising 5 Tierlieb war die Frauenrechtlerin Ellen Ammann auch. So ließ sie sich 1892 ablichten: mit Papagei und Dackel.
Die Münchner Bahnhofsmission in den 1920ern ...
Bahnhofsmission 5 Die Münchner Bahnhofsmission in den 1920ern ...
... und heute.
Daniel von Loeper 5 ... und heute.
1923: Hitlers Putschversuch.
imago/United Archives International 5 1923: Hitlers Putschversuch.
Ein warnendes Bahnhofsplakat Ende 1893.
Bahnhofsmission 5 Ein warnendes Bahnhofsplakat Ende 1893.

München - "Manchmal gerät das Leben aus der Spur. Dann finden sie einen Haltepunkt ... am Münchner Hauptbahnhof". So lautet die Losung der Bahnhofsmission. Bereits seit 125 Jahren ist sie Anlaufadresse für Menschen in Notlagen. Rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr. Heute finden in der ökumenischen Bahnhofsmission Männer und Frauen gleichermaßen Unterstützung. Gegründet wurde sie aber einst für Frauen - von einer jungen Frau: der gebürtigen Schwedin Ellen Ammann.

Ellen Ammann war gläubige Katholikin

Sie war gläubige Katholikin, eine Streetworkerin der ersten Stunde, Frauenrechtlerin, Politikerin, sechsfache Mutter und Gründerin einer Schule für Sozialberufe. Außerdem legte sie den Grundstein für die Polizeiseelsorge. Und die zierliche Frau spielte eine aktive Rolle bei der Niederschlagung von Hitlers Putschversuch 1923.

1923: Hitlers Putschversuch.
1923: Hitlers Putschversuch. © imago/United Archives International

Ende des 19. Jahrhunderts strömen die Menschen zu Tausenden in die Städte. Allein von 1881 bis 1901 verdoppelt sich die Einwohnerzahl in München. Die Menschen sehnen sich nach guten Jobs und einem besseren Leben. Auch viele junge Frauen reisen allein mit der Eisenbahn an, ohne Bleibe oder Anlaufadresse. Ähnlich wie heute viele Ukrainerinnen.

Damals platzt der Traum von einem besseren Leben oft schon direkt nach der Ankunft. Denn am Hauptbahnhof warten Menschenhändler, die die Neuankömmlinge mit falschen Versprechungen locken: Sie bringen die jungen Frauen in Fabriken, wo sie ohne Rechte für Hungerlöhne schuften müssen oder noch schlimmer: direkt ins Bordell. Sogar nach Südamerika werden die Frauen verkauft.

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Ellen Sundström heiratet den Münchner Ottmar Amman

Ellen Sundström kommt aus einer anderen Welt. Die Schwedin wird am 1. Juli 1870 in Stockholm in eine bürgerliche, weltoffene Familie geboren. Ihr Vater ist Ornithologe und Journalist, der seinen Töchtern Latein beibringt, damit sie später studieren können. Auch die Mutter arbeitet als Journalistin. Ellen macht Abitur und studiert Heilsgymnastik (heute Physiotherapie). Als sie 19 ist, zieht ein Untermieter bei der Familie ein: der Orthopäde Ottmar Amman aus München. Er will sich ebenfalls in Heilgymnastik weiterbilden. Die beiden verlieben sich, ein Jahr später ist die Hochzeit.

Die emanzipierte Schwedin zieht mit nach München. Ihr Studium muss sie aufgeben, zu dieser Zeit gibt es weder Gymnasien für Mädchen noch die Möglichkeit für Frauen regulär zu studieren. Ellen Ammann arbeitet in der Klinik ihres Mannes mit. Sie bringt fünf Söhne und eine Tochter zur Welt und engagiert sich immer stärker karitativ. Mit 25 gründet sie den "Marianischen Mädchenschutzverein" (heute In Via), zwei Jahre später die Bahnhofsmission. Ihr Ziel: jungen Frauen Schutz und Beratung zu bieten sowie ihnen Arbeit und eine Unterkunft zu vermitteln.

Die Münchner Bahnhofsmission in den 1920ern ...
Die Münchner Bahnhofsmission in den 1920ern ... © Bahnhofsmission

Am 8. November 1918 wird das Frauenwahlrecht in Bayern ausgerufen, erstmals können nun auch Frauen gewählt werden. Ellen Ammann wird zur Parlamentarierin der ersten Stunde: Am 12. Januar 1919 wird sie als eine von acht Frauen in den Landtag gewählt. Bis zu ihrem Tod bleibt sie Abgeordnete der Bayerischen Volkspartei, setzt sich vor allem für kinderreiche Familien und eine bessere Frauenbildung ein.

"Sie hat mehr Mut bewiesen als manche Herren in Männerhosen"

Das Erstarken der Nationalsozialisten beobachtet Ammann mit Sorge. Im März 1923 fordert sie zusammen mit Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann den damaligen Innenminister Franz Xaver Schweyer auf, Hitler auszuweisen - erfolglos.

Wenig später, am 9. November 1923, versucht sich Hitler an die Macht zu putschen. Ellen Ammann erfährt am Vorabend von den Plänen. Sie schickt ihren Sohn Franz zu den noch nicht verhafteten Regierungsmitgliedern und Parteikollegen, sie versammeln sich in ihrer Frauenschule in der Theresienstraße. "Die Kollegin Ammann hatte damals mehr Mut bewiesen als manche Herren in Männerhosen", zollt ihr später der stellvertretende Ministerpräsident Franz Matt Respekt.

Die Machtergreifung Hitlers erlebt Ellen Ammann nicht mehr mit. Am 22. November 1932 hält die sechsfache Mutter eine Rede im Landtag, unmittelbar danach bricht sie zusammen und stirbt wenig später mit 62 an den Folgen des Schlaganfalls.

Ellen Ammann ist auf dem Alten Südfriedhof begraben.

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2 Kommentare
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  • Witwe Bolte am 22.04.2022 08:19 Uhr / Bewertung:

    Von wegen "gute alte Zeit".
    Für die meisten Frauen war es die "schlechte alte Zeit".
    Ausnahmen waren oft Frauen aus wohlhabendem Elternhaus. Aber auch die hatten oft ein unglückliches Leben.

  • Fibs1 am 21.04.2022 18:31 Uhr / Bewertung:

    Verehrte AZ-Redaktion,
    vielen Dank für diese wirklich gelungene Serie.

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