Einstufung von Schwerbehinderten: "Ich fühle mich gedemütigt"
München - Günther Peetz sucht mit seinem Fuß vorsichtig tastend die nächste Stufe, er klammert sich links an das Treppengeländer. In der rechten Hand hält er einen Wanderstock, der ihm gerade eher im Weg ist.
Es dauert viele Minuten, bis er die wenigen Treppenstufen so hinabgeklettert ist. Bei der Begrüßung in der Bahnhofsunterführung ist Peetz völlig außer Atem und braucht erst einmal eine Pause.
Noch etwa 150 Meter, eine Rampe hoch, bis zum geparkten Auto. Auf dem Weg dorthin braucht Peetz noch zwei längere Pausen, denn das Atmen fällt ihm sehr schwer. Er leidet an allergischem Asthma, an Herzrhythmusstörungen und Bandscheibenproblemen. Neben anderen Beschwerden.
Schicksale lassen sich nicht so einfach kategorisieren
"Es ist peinlich", sagt der 84-Jährige entschuldigend. Ein Gefühl, das ihn ständig im Alltag begleitet, wie er später schildert. "Ich kann meiner Frau nicht helfen, Getränke in das Haus zu tragen, ich kann mich in keine Warteschlange stellen, selbst kurze Wege zum Arzt oder zur Apotheke muss ich mit dem Auto fahren."
Peetz besitzt seit 2014 einen Schwerbehindertenausweis. Mit einem "GdB" von 80 Prozent. "GdB", das bedeutet "Grad der Behinderung". Auf der Rückseite des Ausweises findet man auch ein "G", das Merkzeichen für "einfache Gehbehinderung".
Um einen Parkausweis für einen Behindertenparkplatz zu erhalten, benötigt man ein "aG" - "außergewöhnliche Gehbehinderung". Um dieses "aG" kämpft Günther Peetz.
Es gibt noch viele weitere Buchstabenkürzel, hinter denen letztendlich menschliche Schicksale stehen. Individuelle Schicksale, die sich nicht so einfach kategorisieren lassen.
Das ist wohl die größte Schwierigkeit, wenn es um die Feststellung von Behinderungen geht. Kerstin Celina ist Sprecherin für Sozialpolitik, Inklusion und psychische Gesundheit der Grünen im Landtag. Sie erhält zahlreiche Petitionen von Bürgerinnen und Bürgern. "Ein sehr großer Teil der Beschwerden bezieht sich auf die Ausstellung der Schwerbehindertenausweise", erzählt sie. Das habe die Grünen dazu veranlasst, eine Anfrage an die Staatsregierung zu stellen.
Schwerbehindertenausweis: Immer mehr Klagen vor dem Sozialgericht
Die Antwort liefert einen Einblick in die Situation in Bayern: Wer einen Schwerbehindertenausweis beantragt, erhält im Durchschnitt nach 62 Tagen einen Bescheid. Etwa 40 Prozent der Betroffenen legen gegen diesen Bescheid Widerspruch ein.
Von den Widersprüchen sind wiederum rund 40 Prozent erfolgreich. Der nächste Schritt nach dem Widerspruch ist die Klage beim Sozialgericht. Fast jede zweite Klage ist ganz oder teilweise erfolgreich. Zwischen 2018 und 2020 ist die Anzahl der Klagen um 11,4 Prozent gestiegen.
In diesem Zeitraum sind die Anträge auf Feststellung einer Behinderung jedoch um etwa elf Prozent zurückgegangen. Es wird also deutlich häufiger geklagt. Insgesamt mehr als 68.000 Klagen gegen Entscheidungen zum Schwerbehindertenausweis wurden innerhalb von elf Jahren zwischen 2009 und 2020 vor bayerischen Gerichten verhandelt.
"Die Kriterien sind in den letzten Jahren strenger geworden"
Einer der Kläger ist Günther Peetz. "Ich brauche dringend einen Behinderten-Parkausweis für meine Erledigungen und Arztbesuche, deshalb habe ich im Frühjahr 2019 einen neuen Antrag gestellt." Das Merkzeichen "aG" hat er nicht erhalten. Auch der Widerspruch war erfolglos. Also klagt er. Im kommenden Frühjahr sind seit dem Antrag drei Jahre vergangen.
"Die Kriterien sind nach meinem persönlichen Gefühl in den letzten Jahren deutlich strenger geworden", findet Daniel Overdiek, Rechtsabteilungsleiter des Sozialverbands VdK in Bayern.
Er erhält regelmäßig Berichte von den Beratungsstellen aus 69 bayerischen Kreisen. "Die Unterstützung unserer Mitglieder beim Antrag des Schwerbehindertenausweises ist ein absoluter Standard bei uns und wird häufig in Anspruch genommen."
Gerichtlich bestellte Ärzte nehmen die Untersuchungen vor
Overdiek hat selbst viele Jahre lang Mitglieder beraten. Er kennt den Prozess sehr gut: "Es ist wichtig, dass bei Antragstellung die Atteste und Diagnosen von allen behandelnden Ärzten vorliegen, das erhöht die Chance, dass der gewünschte Behinderungsgrad festgestellt wird."
Sollte dieser nicht gewährt werden, dann lohne es sich meist, Widerspruch einzulegen und, wenn nötig, zu klagen. "Ohne unsere Beratung würden sich einige Mitglieder vielleicht keine Klage zutrauen, wir ermutigen sie aber, wenn es Sinn macht", berichtet Overdiek aus dem Beratungsalltag.
Gehen Betroffene tatsächlich vor Gericht, dann wird noch einmal ganz genau hingeschaut. Gerichtlich bestellte Ärzte, sogenannte Landesärzte, nehmen die Untersuchungen vor.
Behindertenparkplätze fehlen in den meisten Kommunen
Auch Günther Peetz wurde von einem Landesarzt untersucht. Er hat seine Dokumente in einem Ordner sortiert und sucht nach dem Gutachten. "Fällt Ihnen etwas auf?", fragt er, als er eine Zusammenfassung über den Tisch reicht. Unter dem Aktenzeichen steht: "Peetz Jürgen" und ein Geburtsdatum. "Ich heiße Günter Peetz und bin 1937 geboren, falscher Vorname und falsches Geburtsjahr. Ich weiß nicht einmal, ob das Gutachten wirklich auf meiner Akte beruht."
Der Arzt habe sich nicht viel Zeit genommen, ihn genau zu untersuchen. Auch habe er seine Schwerhörigkeit nicht in dem Gutachten erwähnt, obwohl der Nachweis in seiner Akte vorliege. "Ich leide aufgrund meiner Schwerhörigkeit an Tinnitus und Schwindelanfällen, natürlich beeinträchtigt mich das in meiner Mobilität."
Ursprünglich kommt Peetz aus Franken, der Dialekt schwingt ganz leicht mit. Sein Bart ist säuberlich gestutzt, gebügeltes Hemd, zurückgekämmtes Haar. Zwischendurch macht er gerne Scherze. Dann hört man den fränkischen Dialekt sehr deutlich.
Peetz: "Ich habe das Gefühl, ich muss um Almosen betteln"
Als er seine Gefühle schildern soll, schießen ihm plötzlich Tränen in die Augen: "Ich fühle mich um meine Rechte betrogen, und nicht nur das, ich habe das Gefühl, ich muss um Almosen betteln. Ich fühle mich gedemütigt."

Grünen-Landtagsabgeordnete Kerstin Celina sagt, ihr gehen die Schicksale der Betroffenen sehr nah. Auch Günther Peetz hat ihr einmal eine E-Mail geschrieben. "Es ist mitunter eine gesellschaftliche Frage. Wollen wir solidarisch mit älteren und beeinträchtigten Menschen umgehen?"
In den meisten Kommunen gebe es viel zu wenige Behindertenparkplätze. Das könne auch der Grund dafür sein, warum so restriktiv mit dem Merkzeichen "aG" umgegangen wird. Celina: "Die Kommunen sind schwer davon zu überzeugen, mehr Behindertenparkplätze zu schaffen. Der Straßenraum ist hart umkämpft. Es entstehen außerdem Kosten für die regelmäßige Kontrolle, denn diese Parkplätze müssen immer freigehalten werden."
Celina: "Nicht jeder hat den familiären Rahmen"
In ihren Augen müsse von höherer Instanz mehr unternommen werden. Und es bräuchte einfachere und pauschalere Zugänge zu den Erleichterungen, wie Parkausweise, kostenlose Fahrausweise oder Ruf-Taxifahrten.
"Nicht jeder hat den familiären Rahmen und die Möglichkeit, sich zum Arzt fahren zu lassen. Man muss auch die Lebensbedingungen berücksichtigen. Lieber wir vergeben die Erleichterungen großzügig, als dass wir die betroffenen Menschen in Stich lassen."
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