"Ein Skandal": Bayerischer Flüchtlingsrat kritisiert Spontan-Abschiebung nigerianischer Familie
München/Karlsfeld - Die Geschäftsstelle des Bayerischen Flüchtlingsrats in München schlägt Alarm und stellte die Abschiebepraxis im Freistaat in Frage.
Bayerischer Flüchtlingsrat kritisiert Abschiebung von fünfköpfiger Familie nach Nigeria
Konkret berichtet Sprecher Stephan Dünnwald von einem Fall einer in einer Flüchtlingsunterkunft in Karlsfeld (Landkreis Dachau) untergebrachten fünfköpfigen nigerianischen Familie, die in der Nacht auf Dienstag nach Lagos abgeschoben wurde.
Dünnwald: "Plötzlich wird die Familie abserviert"
Die Familie sei bereits 2015 nach Deutschland gekommen, sie habe die Voraussetzungen für ein in der vergangenen Woche im Kabinett beschlossenes Chancen-Aufenthaltsrecht erfüllt.

"Ausgerechnet am Gedenktag zu Flucht und Vertreibung schiebt Bayern diese Familie ab, und zerreißt damit die Bindungen und Lebensentwürfe vor allem der Kinder, die den größten Teil ihres Lebens in Bayern verbracht haben. Die Gesundheit des Vaters ist ohne entsprechende Medikation sehr gefährdet, die Entwicklung des Jungen ebenso", wird Dünnwald in einer entsprechenden Mitteilung zitiert.
"Was mich besonders erschüttert: Da sagt Landrat Stefan Löwl noch, er macht so etwas nicht – und dann passiert es", erkärt Dünnwald im Gespräch mit der AZ. Mit dem Hinweis, der Familie sei die Duldung entzogen worden, man habe handeln müssen, soll Löwl sich Dünnwald gegenüber erklärt haben: "Dabei ist er selbst es, der entscheidet. Plötzlich wird die Familie abserviert."
Landratsamt Dachau: "Die Familie hatte noch nie einen Aufenthaltstitel"
"Herr E. ist mit seiner Familie bereits seit August 2018 ausreisepflichtig und wurde seither geduldet. Im August 2021 wurde die Duldung der Familie ausnahmsweise und letztmalig bis Ende November 2021 erteilt um bis dahin noch arbeiten zu können und die freiwillige Ausreise nach Nigeria inklusive aller vorbereitenden Maßnahmen bei der bzw. der hier notwendigen Verabschiedung vorzubereiten", antwortet das Landratsamt auf eine Anfrage der AZ.
Eine entsprechende Belehrung inklusive erneutem nachdrücklichem Hinweis auf die seit 2018 bestehende Ausreisepflicht habe es gegeben: "Und gegen den Ablehnungsbescheid hinsichtlich der Erteilung einer – weiteren – Beschäftigungsduldung der Familie wurden keine Rechtsmittel eingelegt."
Die Familie sei seit 2018 ausreisepflichtig gewesen und seit Anfang Dezember 2021 im Besitz einer sogenannten Grenzübertrittsbescheinigung, heißt es weiter: "Die Familie hatte noch nie einen Aufenthaltstitel."
Klar ist, dass um 1 Uhr nachts die Polizei vor der Tür der Unterkunft in der Hochstraße stand und die Eltern sowie die drei Kinder im Alter von elf, zehn und sechs Jahren abgeholt und zum Flughafen gebracht habe. Dabei sei alles ruhig und ohne Probleme abgelaufen, sagte ein Polizeisprecher, der für weitere Informationen an das Landratsamt verwies.
Stephan Dünnwald: "Die Abschiebung dieser sehr gut integrierten Familie ist ein Skandal. Arbeitgeber, Schule und Betreuerin setzten sich für die Familie ein. Die völlig unnötige Abschiebung kurz vor Inkrafttreten des Chancen-Aufenthaltsrechts lässt den Schluss zu, dass in Bayern schnell noch viele derjenigen, die von dem Gesetz profitieren würden, abgeschoben werden sollen."
Vater der nigerianischen Familie arbeitete als Putzkraft in einem Hotel in Ottobrunn
Hinter den kargen Fakten verbergen sich menschliche Schicksale – und Krankheiten. Sohn Gabriel (10) leidet unter einer Genmutation (Fragiles-X-Syndrom), bei seiner Mutter wurde vor einigen Wochen ein Tumor im Bauch festgestellt, eine Operation sollte folgen, um zu klären, was dahintersteckt, der Vater – er arbeitete zuletzt als Putzkraft in einem Hotel in Ottobrunn und hat von dort positive Referenzen bekommen – leidet an einer Autoimmunerkrankung, ist aber medikamentös gut eingestellt.
Mit Blick auf die Erkrankung der Mutter teilt das Landratsamt mit, dass die vorliegenden ärztlichen Beurteilungen "keine abschiebehindernden Erkenntnisse erbracht" hätten. Auch der zuletzt vorgelegte Arztbericht lasse keine Tumorerkrankung erkennen und gebe auch keinen Hinweis auf eine anstehende Operation.

"Die Familie hat es wirklich nicht leicht – die Eltern sind sehr fleißig und anständig, sie kümmern sich um ihre Kinder", erzählt Julie Richardson vom Kinderschutz München, die Gabriel in einer heilpädagogischen Tagesstätte des Trägers betreut, ihn am Dienstag vermisste und dann Alarm schlug.
Julie Richardson: "Plötzlich ging alles ganz schnell, und die Familie wurde abgegriffen"
"Die Familie stand kurz vor der Eingabe ihres Falles in die Bayerische Härtefallkommission", betont Stephan Dünnwald. "Wir haben diesen Antrag vorangetrieben und haben uns in Sicherheit gewogen. Dann ging alles ganz schnell, und die Familie wurde abgegriffen", sagt Julie Richardson.

Der Mitarbeiterin des therapeutischen Fachdienstes liegt vor allem das Wohl von Gabriel am Herzen: "Er ist trotz seines umfassenden Handicaps immer bereit, sein Bestes zu geben. Er ist ein großer, starker und gutmütiger Junge, daher dient er psychisch labilen Kindern als Ruhepol."
Dünnwald: "Der bayerische Innenminister könnte eine solche Praxis unterbinden"
Ein Wechsel an die Neuhäusler-Schule des Franziskuswerkes Schönbrunn habe dabei geholfen, Gabriel gezielt zu fördern und gerade auch seine handwerklichen Fähigkeiten zu unterstützen. "Die anderen Kinder kratzen schon ihr Taschengeld zusammen, um Gabriel zu helfen, damit er zurückkommen kann", erzählt Julie Richardson. "Schlimm, das Wohl der Kinder steht für uns über allem."
Wie geht es weiter? "Der bayerische Innenminister könnte mit Hilfe eines Vorgriffserlasses eine solche Praxis unterbinden und Personen, die von dem kommenden Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren könnten, schützen", schlägt Stephan Dünnwald vor. Dem Bayerischen Flüchtlingsrat seien mehrere Fälle bekannt, bei denen sogar Familien durch Abschiebung getrennt und potenzielle Kandidaten für einen Aufenthaltstitel noch schnell abgeschoben wurden.

Landratsamt: Landrat Löwl hat keinen Einfluss auf Art der Abschiebung
Dünnwald will jetzt mit Hilfe einer Anwältin prüfen lassen, ob die Abschiebung der Karlsfelder Familie mitten in der Nacht rechtens war, denn gemäß Paragraf 58 Aufenthaltsgesetz Absatz 7 darf "die Wohnung nur betreten oder durchsucht werden, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung andernfalls vereitelt wird". Das Verfahren werde aber sicher viel Zeit in Anspruch nehmen, so Dünnwald.
Landrat Stefan Löwl habe von der geplanten Abschiebung bzw. deren Termin nichts gewusst, schreibt das Landratsamt: "Die Abläufe einer Abschiebung unterliegen der Geheimhaltung (vgl. § 97a AufenthG). Zur Art und Weise der Abschiebung kann Landrat Löwl daher keine Aussage machen, da er darin auch nicht involviert ist", heißt es aus dem Landratsamt. Die Uhrzeit richte sich im Regelfall nach den geplanten Abflugzeiten.
"Die Situation im Heimatland Nigeria ist von Terrorismus und einer hohen Kriminalitätsrate gekennzeichnet. Nicht nur für christliche Familien wie die Familie E. /I. ist die muslimische Terrorvereinigung Boko Haram eine große Gefahr, diese Gefahr betrifft alle Menschen dort. Es gibt zudem noch weitere Gruppierungen, welche Terror ausüben. Gewaltkriminalität ist weit verbreitet, wovon vor allem Frauen und Mädchen betroffen sind (Entführungen, Vergewaltigungen). Die medizinische Versorgung ist katastrophal, da alles über den Selbstzahlermodus läuft. Die für die Eltern dringend erforderliche Medikation werden sie nicht mehr erhalten, was sich auf die Lebenserwartung auswirken wird." (Auszug aus einer Stellungnahme des Kinderschutz München in Karlsfeld zum dargelegten Fall) Nach Angaben aus dem Landratsamt gab es im Landkreis Dachau in diesem Jahr bis dato zehn Abschiebungen, 2021 waren es 20 Abschiebungen.
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