Ein Jahr nach den Flüchtlingszügen: Normalität kehrt ein
München - "Was ist wohl aus ihnen geworden?" Das fragt sich Marina Lessig oft. Aus den beiden Jungs, die sie von den Mülltonnen wegholte und überredete, sich in ein Kinderheim bringen zu lassen. Aus dem Baby, das mitten im Chaos in einem Krankenwagen geboren wurde - oder aus dem jungen Syrer, der nur wenig jünger war als Marina Lessig selbst, fließend Französisch sprach und in Deutschland so gerne seinen Master in Financial Studies beenden wollte. "Hätte ich ihn unter anderen Umständen kennen gelernt, wären wir wahrscheinlich Freunde geworden und abends ein Bierchen trinken gegangen."
Doch es waren ganz besondere Umstände vor einem Jahr am Münchner Hauptbahnhof, als die heute 27 Jahre alte ehrenamtliche Helferin und der junge Mann sich trafen, damals, als Kanzlerin Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Tausende in Ungarn gestrandete Flüchtlinge unbürokratisch ins Land kommen ließ. Eine Ausnahmesituation.
"An den ersten September 2015 kann ich mich gut erinnern", sagt Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). "An jenem Tag habe ich im Circus Krone die neuen städtischen Auszubildenden begrüßt. Anschließend bin ich zum Hauptbahnhof gefahren und dann auch gleich vor Ort geblieben." Allein in rund zwei Wochen kamen damals 75 000 Asylsuchende am Münchner Hauptbahnhof an. Den Rekord vermeldete die Regierung von Oberbayern am 12. September mit 13 000 Ankommenden an nur einem einzigen Tag.
Alltag zurück im Münchner Bahnhofsviertel
Heute sind die Bilder vom Gleis 26, die damals um die Welt gingen, Zeitgeschichte, eingegangen in das kollektive Gedächtnis nicht nur der Münchner. Nur noch wenige Flüchtlinge kommen heute am Bahnhof an. Fünf oder sechs am Tag seien es vielleicht, schätzt ein Sprecher der Münchner Polizeipräsidiums. Im Bahnhofsviertel ist längst der Alltag zurückgekehrt - auch wenn die Polizei sagt, es gebe inzwischen ein "größeres Sicherheitsbedürfnis" der Menschen, die sich am Bahnhof aufhalten.
Lesen Sie hier: Polizeipräsident: Keine konkrete Anschlagsgefahr für die Wiesn
Die große Hilfsbereitschaft der Münchner war es, die aus der bayerischen Landeshauptstadt die Hauptstadt der Willkommenskultur machte. So viele Helfer boten sich an, dass einige sogar weggeschickt werden mussten, erinnert sich Lessig. Heute sitzt sie im neu eröffneten "Freiwilligen-Laden" des im Januar gegründeten Vereins "Münchner Freiwillige - Wir helfen e.V." und überlegt, wie sie Freiwillige finden kann, die sich heute und langfristig engagieren wollen. "Jetzt ist ein Ehrenamt gefragt, wo es Konstanz und Beziehungsarbeit braucht."
Sie sucht zum Beispiel Spielplatzpaten, die Mütter aus Syrien oder dem Irak und ihre Kinder mit auf den Spielplatz nehmen. Die Integration der Frauen sei besonders wichtig, sagt Lessig. "Das haben wir bei der letzten Generation von Einwanderern vergessen. Wir müssen sie aus den Wohnungen holen."
Knapp 27 000 Asylbewerber in München und Oberbayern
Derzeit sind nach Angaben der Regierung von Oberbayern in den Aufnahmeeinrichtungen in München und Oberbayern bis zu 6000 Asylbewerber untergebracht. In den staatlichen Gemeinschaftsunterkünften sind es über 3000 Asylbewerber. Dazu kommen rund 18 000 Asylbewerber, die in dezentralen Unterkünften untergebracht sind.
Ausgerechnet im Münchner Bahnhofsviertel, wo so viele zum ersten Mal den Fuß auf deutschen Boden setzten, ist davon kaum etwas zu spüren. Unterkünfte gebe es dort nicht, sagt Fritz Wickenhäuser, Vorsitzender des Stadteilvereins Südliches Bahnhofsviertel. Auch an der "Arbeiterstrich" geschimpften Straßenecke, an der Männer aus Bulgarien und Rumänien sich als Tagelöhner andienen, sei nichts davon zu merken, dass ein paar Meter weiter vor einem Jahr so viele Flüchtlinge ankamen.
Das Viertel ist ein "Multi-Kulti-Viertel im besten Sinne", wie Wickenhäuser sagt. Es gibt kleine türkische Läden, Dönerbuden, Lebensmittelgeschäfte und vor Weihnachten stellen alle Anwohner und Geschäftsleute zusammen einen Weihnachtsbaum auf, egal, welcher Religion sie angehören. Ein Modellviertel könnte es sein für die große Aufgabe Integration, der sich nun das ganze Land stellen muss. "Man muss den Menschen hier die Chance geben, dass sie das Leben gemeinsam gestalten", sagt Wickenhäuser und zitiert seinen türkischen Nachbarn: "Integration kennen wir nicht. Wir leben miteinander."
Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur:
Frage: Was ist Ihnen aus dieser Zeit Anfang September 2015 vor allem im Gedächtnis geblieben?
Reiter: Wenn ich an diese Wochen im September zurückdenke, dann ist mir einmal die außerordentliche Hilfsbereitschaft der Münchnerinnen und Münchner in Erinnerung. Auch die Art und Weise, wie herzlich sie die geflüchteten Menschen in Empfang genommen haben. Zum anderen denke ich auch an die vielen Menschen, die nach einer langen und beschwerlichen Flucht bei uns ankamen. Ein Bild ist mir im Kopf geblieben, von jener syrischen Familie, die liebevoll ihrer sicher weit über 80-jährigen, gehbehinderten Oma über die Stufen am Hauptbahnhof geholfen haben. Man konnte die Erleichterung in vielen Gesichtern der Geflüchteten sehen.
Frage: Gibt es eine Begegnung mit einem Flüchtling, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Reiter: Ich erinnere mich an eine Familie, die ihre kleine Tochter auf der Flucht verloren hatte. Mit dem Pass der Kleinen standen sie am Hauptbahnhof vollkommen aufgelöst vor mir. Sie hatten ihre Tochter schon in Ungarn vermisst. Man kann sich vorstellen, wie verzweifelt die Eltern waren. Kaum zu glauben, dass wir die Kleine nach wenigen Stunden ausgerechnet in München finden und mit den Eltern wieder vereinen konnten. Zum Glück hatte ein junger Flüchtling aus Afghanistan die Kleine an die Hand genommen und war mit ihr bis nach München gekommen, wo er die Eltern vermutet hatte. Das wird mir sicher in Erinnerung bleiben.
Frage: München hat sich damals als weltoffene, gastfreundliche und überaus menschliche Stadt gezeigt. Hat sich dieses Bild gewandelt?
Reiter: Nein, München ist nach wie vor eine weltoffene und tolerante Stadt. Viele Münchnerinnen und Münchner engagieren sich auch heute noch, geben Sprachkurse, helfen bei der Kleidersammlung, in den Unterkünften. Aber natürlich gibt es auch Menschen, die Vorbehalte haben. Das darf man nicht unter den Teppich kehren, sondern muss darüber reden, Vorurteile entkräften. Im letzten Jahr ging es vor allem darum, die Flüchtlinge vor Obdachlosigkeit zu schützen, ihnen das Notwendigste zu bieten, Essen, einen Schlafplatz. Jetzt stehen wir vor der eigentlichen Herausforderung: Die Integration der zu uns geflüchteten Menschen, in den Alltag, in die Schulen, in den Arbeitsmarkt. Das ist eine riesige Aufgabe, die man nicht klein reden darf und die uns alle fordert.