Ehrenamtliche Helfer am Telefon: "Das Fünkchen Hoffnung"
München - Die Räume sind zweckmäßig und schmucklos eingerichtet: ein Schreibtisch mit Bürostuhl, Computer und Telefon. Doch die Dienststelle der Telefonseelsorge der Erzdiözese München und Freising ist kein normales Büro. Den Menschen, die hier allein am Telefon oder PC sitzen, vertrauen Münchner ihre größten Sorgen und Ängste an. Immer mehr Menschen suchen hier Hilfe, wenn sie verzweifelt und traurig sind. Wenn sie nicht mehr wissen, wohin mit ihrem Frust, keine Perspektive sehen.
Die drei Dienststellen sind rund um die Uhr erreichbar
Rund um die Uhr sind die Telefone besetzt. Und auch per Mail und Chat ist immer jemand erreichbar. In den drei Dienststellen der Erzdiözese München, Mühldorf und Bad Reichenhall arbeiten 126 Mitarbeiter, davon 110 ehrenamtlich. Die älteste ist 80 - und chattet am liebsten. Im Coronajahr 2020 ist die Zahl der Anrufe um 2,5 Prozent auf 34.000 angestiegen, die Zahl der Chats sogar um fast 80 Prozent. Ulrike Dahme ist eine der Telefonseelsorgerinnen. Seit 2010 ist sie dabei. "Mit Herzblut", betont sie.
AZ: Frau Dahme, gibt es Tage, an denen besonders viele Menschen anrufen?
ULRIKE DAHME: Viele Menschen rufen in den Abendstunden an oder an Wochenenden und Feiertagen. Am Muttertag und um Weihnachten geht es zum Beispiel um familiäre Beziehungen und um ganz viel verpasste Liebe in der Kindheit, Einsamkeit und Depression.
Sind es seit Corona mehr?
Ja, das ging mit der ersten Corona-Welle los. Da hatten wir 30 Prozent mehr Anrufe als im Jahr davor.
Diese Themen belasten die Anrufer in der Corona-Krise
Was belastet die Menschen in der jetzigen Krise besonders?
Zum Beispiel rief ein Selbstständiger an, der sich viel aufgebaut hat - und das geht jetzt kaputt. Andere sind einsam. Auch Sucht ist ein Thema, ein sehr schambesetztes. Und es rufen viele Studenten an. Sie haben Druck und Stress und die Motivation sinkt. Für die Erstsemester ist es ein sehr holpriger Start: Sie sind in eine WG gezogen, aber ihre Mitbewohner wohnen plötzlich wieder bei den Eltern. Sie haben keine Erfahrung mit dem Studium und sind allein in einer fremden Stadt. Oder sie stranden wieder bei den Eltern.
Welche Corona-Themen gibt es noch?
Es gibt viele Reibereien zu Hause, Konflikte eskalieren. Da geht es zum Beispiel darum, wer an den Rechner darf. Alle hocken aufeinander, man geht sich auf die Nerven, aber es ist auch die Sehnsucht da nach Nähe und Beziehung. Viele sind mürbe und schnell gereizt.
Was raten Sie in so einer Situation?
Wir sprechen darüber: Wie kann ich fair streiten, dass jeder zu Wort kommt? Wir überlegen, wie kann er sich Freiräume schaffen? Was braucht er?
Mut machen, Perspektiven eröffnen
Haben Sie ein Ziel, wie ein Gespräch enden sollte?
Mein Ziel ist, dass sich der Mensch, der anruft, verstanden fühlt und einen ersten Schritt gehen kann. Das ist manchmal eine Gratwanderung. Aber sehr oft geht es vor allem darum, dass jemand die schlechte Laune und Perspektivlosigkeit einfach aushält. Ich versuche, die Situation zu spiegeln, damit der Ratsuchende Distanz bekommt und auch andere Aspekte sieht. Ich höre hin, wo er Reserven und Selbstheilungskräfte hat. Wir loten Möglichkeiten aus. Ich versuche, Mut zu machen. Und wieder Perspektiven zu eröffnen. Dass wieder ein Fünkchen Hoffnung aufflammt.
Wie lange dauert so ein Gespräch?
Von zehn Minuten bis zu einer dreiviertel Stunde. Wir achten schon darauf, dass es nicht ausufert.
Wie sind Sie zur Telefonseelsorge gekommen?
Das war ein spontaner Entschluss. Ich habe davon gehört und mich einfach gemeldet. Ich habe vom ersten Moment an gemerkt, dass das mein Ding ist.
Als Seelsorgerin von den Ratsuchenden lernen
Was mögen Sie an dieser Aufgabe?
Ich bin am Puls des Lebens. Und ich mag Menschen - so wie sie halt sind: so einzigartig und liebenswürdig und manchmal auch widerspenstig. Außerdem lerne ich unheimlich viel von Ratsuchenden. Ich bewundere ihren Mut, sich Hilfe zu suchen, auch schambesetzte Probleme auszusprechen, ihre Beharrlichkeit, Belastendes durchzustehen - da gibt es vieles. Und es macht mir Freude, mich mit vielen feinen Menschen auszutauschen, die andere begleiten, also mit anderen Seelsorgern.
Welche Rolle spielt Ihr Glaube im Gespräch?
Ich schlage niemandem den Lieben Gott um die Ohren. Aber für mich sind es tatsächlich oft die intensivsten Gespräche, wenn es um innerste Werte geht.
Jüngere chatten lieber als anzurufen
Die vielen, die per Chat Hilfe suchen, sind vor allem Jüngere, nehme ich an?
Ja. Die 15- bis 30-Jährigen telefonieren nicht mehr. Sie melden sich oft, wenn sie unterwegs sind - zum Beispiel, wenn sie in der Bahn hocken.
Was sind ihre Themen?
Mobbing in sozialen Medien ist ein großes Thema, auch selbstverletzendes Verhalten. Viele rufen auch an, weil sie Liebeskummer haben. Sie leiden schrecklich. Stellen Sie sich vor, sie stecken mitten im Abi und sind unglücklich verliebt.
Verlaufen Chatgespräche anders als Telefongespräche?
Chats können wahnsinnig schnell sehr dicht sein. Es gibt nur Text, keine Stimme. Das erleichtert es noch mal mehr, Dinge auszusprechen. Im Chat war auch schon Thema, wie das erste Mal wird.
"Mailen hat einen Tagebucheffekt"
Und wer mailt eher?
Das sind Jüngere, aber auch Menschen über 60. Mailen hat einen Tagebucheffekt. Es fördert die Selbstreflexion. Man kann das Problem abgeben und die Antwort später nachlesen. Die Abwehr ist geringer. Bei Mails geht es oft mehrmals Hin und Her. Aber eine Brieffreundschaft soll es nicht werden.
Haben Sie ein Ritual, wenn Ihre Schicht zu Ende ist?
Für mich ist es wichtig, den Alltag draußen zu lassen. Wir führen die Gespräche immer in der Dienststelle. Viele von uns zünden eine Kerze an. Bei mir schlägt die Theologin durch: Ich lese einen Psalm. Und ich gebe es innerlich ab, ich bitte: Lieber Gott, sei du auch da für diese Menschen.
Könnten Sie zurückverfolgen, wer angerufen hat?
Nein, das ist wirklich anonym.
Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr kostenlos erreichbar: 0800 1110-111/-222. Oder per Mail und Chat über die Internetseite www.telefonseelsorge.de
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