Interview

Ehrenamtler helfen Todkranken: Sie erfüllen Münchnern letzte Wünsche

Jennifer Zeller (39) ermöglicht mit dem Wünschewagen unheilbar kranken Menschen eine letzte Reise. Ein Gespräch über schwere Momente, die aber wichtig sind.
Hüseyin Ince
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Jennifer Zeller und Sebastian Hoppe am Wünschewagen, einem vollausgestatteten Krankentransporter. Mit ihm können Todkranke einen letzten Ausflug machen.
Jennifer Zeller und Sebastian Hoppe am Wünschewagen, einem vollausgestatteten Krankentransporter. Mit ihm können Todkranke einen letzten Ausflug machen. © Daniel von Loeper

München - Das Projekt Wünschewagen gibt es in München seit 2016, seit 2018 ist Jennifer Zeller die Projektleiterin. Zusammen mit 36 Kolleginnen und Kollegen nimmt sich die zweifache Mutter Zeit, um Menschen, die den Tod vor Augen haben, einen schönen Tag zu organisieren. Mit der AZ spricht Zeller darüber, warum sie dieses Ehrenamt beim Arbeiter-Samariter-Bund liebt, obwohl sie das Projekt regelmäßig an den Rand der Tränen bringt. Und Krisen-Psychologe Sebastian Hoppe (29) erklärt, wie er die Ehrenamtler vom Wünschewagen auffängt.

AZ: Frau Zeller, solche Fahrten müssen heftige Erlebnisse sein.
JENNIFER ZELLER: Natürlich.

Ich traue mich kaum, nach einem Beispiel zu fragen.
ZELLER: Die intensivsten Fahrten sind mit schwerkranken Kindern. Aber wir müssen funktionieren. Es geht darum, dass sie einen schönen Tag erleben. Das ist uns sehr wichtig.

Welche Fahrt ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
ZELLER: Jede Fahrt ist speziell. Aber eine werde ich nie vergessen. Es war vor Corona, 2019. Wir haben einen zehnjährigen Buben von der Kinderklinik abgeholt und fuhren in den Münchner Norden, zu ihm nach Hause. Es ist ja ohnehin schon brutal, wenn Kinder todkrank sind. Aber hier war es so: Sein sechsjähriger Bruder war ebenfalls unheilbar krank. Und der letzte Wunsch des Zehnjährigen war, noch einmal seinen sechsjährigen Bruder zu sehen, der daheim im Sterben lag. Beide litten an der gleichen, unheilbaren Krankheit.

Fürchterlich.
ZELLER: Wir alle hatten mit den Tränen zu kämpfen. Wir stützten ihn. Er wollte unbedingt auf eigenen Beinen die Treppen zum Kinderzimmer hochlaufen, in dem beide groß geworden sind. Oben am Sterbebett seines kleinen Bruders zog er die Schuhe aus, legte sich zu ihm, umarmte und kuschelte sich an ihn. Das war eigentlich fast eine Spur zu hart. Wer so etwas erlebt, sieht viele Dinge im eigenen Leben anders.

"Man fragt sich: warum?"

Wie gingen Sie damit um?
ZELLER: Wir vom Wünschewagen merkten, dass es jetzt wichtig ist, wenn die Familie unter sich ist. Die Eltern sowie die beiden Brüder. Wir gingen aus dem Zimmer, hinaus ins Freie und mussten erst einmal durchatmen. Trotz aller Trauer wussten wir, dass wir einen sehr besonderen Moment ermöglicht haben.

Was machen solche Momente mit Ihnen?
ZELLER: Man fragt sich: warum? Aber eigentlich sollte ich das nicht tun. Schließlich hat keiner eine Antwort darauf.

Verliert man den Glauben?
ZELLER: Schwer zu sagen. Ich frage mich möglichst nicht mehr nach dem Warum. Vielleicht, weil ich täglich mit dem Thema Tod zu tun habe.

Wie viele Fahrten mit dem Wünschewagen finden statt?
ZELLER: Es sind früher, vor Corona, bis zu vier Fahrten pro Woche gewesen, aber während der Pandemie hat sich das reduziert auf etwa eine Fahrt pro Woche.

"Der Sechzger-Fan nahm den Vereinsschal mit ins Grab"

Warum?
ZELLER: Nun ja, das Risiko, dass sich todkranke Menschen mit Corona anstecken, ist größer, wenn sie das Krankenbett verlassen. Und für alle, die so eine unheilbare Krankheit haben, hieße eine Corona-Infektion, dass sich das Leben noch einmal dramatisch verkürzt.

Was sind die häufigsten Wünsche vor Weihnachten?
ZELLER: Natürlich noch ein letztes Mal zu Hause zu sein. Aber wie gesagt, viele von ihnen sind schon so schwach, dass die Ärzte die Fahrt nicht freigeben. Wir wollen und brauchen für jede Fahrt eine ärztliche Freigabe. Unsere Fahrgäste sollen nicht durch unsere Reise in Lebensgefahr geraten.

Was sind grundsätzlich die häufigsten Wünsche?
ZELLER: Erwachsene wollen oft noch einmal an einen See oder in die Berge. Bei Kindern ist das anders. Da ist es eher das eigene Kinderzimmer oder der Zoo, zum Pony, das sie sehen wollen. Oder ins Schwimmbad. Sie wollen Abschied nehmen. Kinder wissen natürlich auch, wie Erwachsene, in welcher Lage sie sind.

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Wie viel Prozent Ihrer Fahrgäste sind Kinder?
ZELLER: Etwa 25 Prozent.

Haben Sie noch eine weitere Geschichte von einem Erwachsenen?
ZELLER: Ich denke oft an den Fan von 1860 München zurück. Er wollte noch ein letztes Mal im Grünwalder Stadion sein und einem Spiel seines Vereins zusehen. Und da haben wir es geschafft, dass seine Erwartungen sogar übertroffen wurden.

Nämlich?
ZELLER: Wir haben im Vorfeld arrangiert, dass er einen Fanschal mit den persönlichen Unterschriften aller Spieler bekommen hat, die ihn nach der Partie getroffen haben. Ich habe erfahren, dass er mit diesem Schal beerdigt werden wollte. Auch der Wunsch ist ihm erfüllt worden.

Was hat sich seit Corona für die Wünschewagen-Fahrten verändert?
ZELLER: Wir fahren ausschließlich mit FFP2-Maske und 2G-Plus-Regelung. Es ist mehr Aufwand. Wir brauchen mehr Formulare für den Fahrgast und die Begleitperson.

Bei wie vielen Fahrten sind Sie selbst dabei?
ZELLER: Für mich ist es als Projektleiterin wichtig, an mindestens zwei bis vier Fahrten pro Jahr teilzunehmen, um auch zu sehen, was noch verbessert werden könnte.

Solche Fahrten klingen sehr herausfordernd.
ZELLER: Sie erden einen. Da werden ganz große Alltagsprobleme ganz klein. Oft denke ich mir: Meine Güte, darüber habe ich mich gestern noch ernsthaft aufgeregt! Und mir wird es immer wichtiger, den Wunsch der Fahrgäste besser zu erfüllen, als er ausgesprochen wurde.

Haben Sie dafür noch ein Beispiel?
ZELLER: Es ging wieder um ein Kind, eine Fünfjährige. Sie wollte Bibi und Tina on Ice sehen. Da habe ich es geschafft, nach der Vorstellung ein Meet and Greet mit den Schauspielern zu arrangieren.

Haben Sie jemals selbst die Hilfe von Krisen-Psychologen wie Sebastian Hoppe in Anspruch genommen?
ZELLER: Es sind oft spontane Gespräche, eher informell. Sie helfen sehr.

"Oft ist es schon entlastend, die Dinge auszusprechen"

Herr Hoppe. Sie sind studierter Psychologe. Mit welchen Worten trösten Sie dann Kolleginnen wie Frau Zeller?
SEBASTIAN HOPPE: Gespräche über belastende Arbeit stabilisieren schon oft. Und es kann auch mal notwendig sein, eine Zeit lang zu pausieren. Es kommt ja vor, dass private Belastungen dazukommen. Da wird es oft zu viel. Schließlich müssen wir einigermaßen gut beisammen sein, um Menschen in einer schwierigen Situation zu betreuen.

Und wenn Sie konkreter werden müssten, wie fangen Sie Ihre Kollegen auf?
HOPPE: Oft ist es schon entlastend, die Dinge einfach auszusprechen. Wir sind ja unter Kollegen. Der erste Schritt ist kein Hexenwerk.

Welche Momente belasten die Kollegen stärker?
HOPPE: Wenn das Erlebte Parallelen zum Privatleben hat. Wenn wir beim Beispiel der todkranken Fünfjährigen bleiben, die zu Bibi und Tina on Ice wollte: Falls ich selbst eine Tochter habe, die fünf Jahre alt ist, dann kann das natürlich viel stärker aufwühlen. Und unsere Aufgabe ist es dann, mit offenem Herzen zuzuhören. Aber nicht verwechseln: Das ist keine Psychotherapie. Und auch wir haben keine Antwort auf die Frage: warum? Es geht eher darum, gemeinsam auszuhalten, dass es keine Antwort gibt.

Frau Zeller, also, gefestigt sollte man für den Wünschewagen schon sein oder?
ZELLER: Absolut.

Hat Ihnen Ihre Erfahrung als Rettungssanitäterin geholfen?
ZELLER: Selbstverständlich. Das härtet schon ab. Es bringt nichts, auf einer Fahrt mit dem Wünschewagen ständig nah an den Tränen zu sein. Die Fahrt, dieser eine Tag, soll unserem Fahrgast Spaß machen, auch wenn das seltsam klingen könnte, bei einem Menschen, der weiß, dass er recht bald sterben wird.

"Das Team vom Wünschewagen macht das alles ehrenamtlich"

Wie spontan sind Sie dann auf der Fahrt selbst?
ZELLER: Das funktioniert ganz gut. Ein kurzer Halt beim Lieblingsbäcker oder beim Lieblingsrestaurant - alles möglich.

Sie sagten, im Wünschewagen muss ein ausgebildeter Sanitäter dabei sein. Wie sieht es mit dem Fahrer aus?
ZELLER: Da reicht ein Erste-Hilfe-Kurs, der nicht älter als zwei Jahre alt ist. Daher kann sich fast jeder mit Erste-Hilfe-Kurs bei uns ehrenamtlich engagieren. Sie sind jederzeit willkommen und können sich gerne melden.

Wie genau funktioniert der Wünschewagen eigentlich?
ZELLER: Wir haben auf der Internetseite wuenschewagen.de ein Kontaktformular, das ausgefüllt werden kann.

Und es geht immer um Menschen, die damit rechnen, bald zu sterben?
ZELLER: So ist es. Es geht um deren Wunsch, ein letztes Mal an einen besonderen Ort zu fahren. Den erfüllen wir. Der Antrag landet dann bei mir. Ich organisiere die Fahrt.

Können Sie manchmal so einen wichtigen Wunsch nicht erfüllen?
ZELLER: Das kommt vor, wenn der Zustand des Patienten einfach zu schlecht ist, wenn es eine zu große Last für denjenigen wäre, im Wünschewagen transportiert zu werden. Das müssen die behandelnden Ärzte einschätzen.

Sie verfügen über einen professionellen Krankentransportwagen mit allen dazugehörigen Geräten. Wie finanziert sich das Projekt?
ZELLER: Ausschließlich über Spenden. Alle, die am Wünschewagen beteiligt sind, machen das ehrenamtlich, völlig unentgeltlich.

Das heißt, Sie oder einer Ihrer Kollegen holen dann den Wünschewagen-Gast ab, an einem bestimmten Termin und fahren los?
ZELLER: So einfach ist das leider nicht. Wir müssen im Vorfeld viele Details klären. Braucht der Fahrgast Sauerstoff, welche Medikamente nimmt er ein, kann er oder sie sitzen oder nur liegen? Alles medizinisch Relevante eben. Es geht schließlich um schwerkranke Menschen. Eine Begleitperson darf dabei sein. Das ist meistens auch so. Wir stellen dann zwei Ehrenamtler: einen Fahrer sowie einen ausgebildeter Rettungssanitäter im Transportraum.


Wer für den Wünschewagen spenden möchte findet alle Infos unter www.wuenschewagen.de

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  • Geh Recht am 13.12.2021 18:01 Uhr / Bewertung:

    Was für eine großartige Organisation! Toll, dass es so engagierte Menschen gibt!

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