E-Scooter werden in München für Blinde zur gefährlichen Stolperfalle
Nur wenige Meter vom Aufgang der U-Bahnstation entfernt steht das schmale, pinkfarbene Gefährt auf dem Gehweg. Stefan Unterstraßer tastet sich mit seinem Stock voran, doch er hat kaum eine Chance, den E-Scooter rechtzeitig zu bemerken.
Sehen kann er ihn nicht: Unterstraßer ist blind. Sobald er leicht an das Fahrzeug stößt, wackelt es und neigt zum Umkippen. Eine brandgefährliche Situation für den 49-Jährigen.
E-Scooter in München sorgten bereits mehrfach für Unfälle
Regelmäßig stößt der Münchner an solche achtlos abgestellten E-Scooter, wie er erzählt. Dann kommen Erinnerungen hoch: Im September 2021 hatte er bereits einen schweren Unfall, weil jemand ein Gefährt rücksichtslos geparkt hatte.
Der Roller lag auf der Treppe zur U-Bahn. Unterstraßer bemerkte ihn nicht und stolperte darüber. Zehn Stufen tief fiel er, war zwei Monate lang arbeitsunfähig. Seitdem hat er gesundheitliche Probleme und Schmerzen, so berichtet er es. "Aber es interessiert niemanden."
Stadt München und E-Scooter-Anbieter weisen Verantwortung von sich
Zuständig für seine Beschwerden fühle sich keiner. "Die Stadt sagt, sie sei nicht schuld, die Anbieter sagen auch, sie seien nicht schuld." Auf Schmerzensgeld wartete Unterstraßer vergeblich.
Seine Beschwerden werden eigenen Worten zufolge immer nur abgewimmelt – wenn er überhaupt eine Rückmeldung bekommt. Von der Stadt, erzählt er, habe er sogar einmal den Ratschlag bekommen, er solle doch Fotos von falsch geparkten Scootern machen. Für einen Blinden blanker Hohn.
"Kann das ja nicht melden": E-Scooter großes Risiko für Blinde
Auch die Anbieter erweisen sich als wenig kooperativ, sagt Unterstraßer. Manche würden zwar eine Telefonnummer in Blindenschrift auf ihren Fahrzeugen angeben, doch das sei kaum hilfreich. "Ich kann ja das Kennzeichen nicht sehen, um es zu melden."
So wie Unterstraßer ergeht es vielen Blinden und Sehbehinderten, für die achtlos abgestellte Scooter ein echtes Risiko darstellen. Sie sind nicht nur der Gefahr ausgesetzt, darüber zu stolpern und sich ernsthaft zu verletzen. Die Gefährte können auch wichtige Orientierungspunkte rauben, sagt Unterstraßer.
E-Scooter werden in München nur selten "aufgeräumt"
Mit ihrem Stock tasten Blinde sich zum Beispiel an Wänden, Vorsprüngen und Hauseingängen entlang. Wenn die aber durch Scooter blockiert werden, tun sie sich oft schwer, ihr Ziel zu finden. "Neulich stand einer direkt in einem Ladeneingang", erzählt Unterstraßer kopfschüttelnd.
Den Grund für solch ein rücksichtsloses Verhalten sieht der Münchner in der Bequemlichkeit mancher Nutzer. "Sie denken sich: Ich fahre damit zur U-Bahn, die kommt gleich. Also springe ich runter und lasse den Roller einfach dort stehen." Gedanken darüber, welche Probleme das für andere mit sich bringen könnte, würden viele sich nicht machen.

Und so kommt es in München an beinahe jeder Ecke dazu, dass die Scooter an unpassenden Stellen parken: ob mitten auf dem Gehweg, direkt vor Rolltreppen oder vor Ampeln. Nicht nur Blinde haben damit Schwierigkeiten. Erst kürzlich starb in Gelsenkirchen ein Radfahrer an den Verletzungen, die er sich beim Sturz über einen auf dem Radweg liegenden Scooter zugezogen hatte.
Mobilitätsreferent Georg Dunkel: "Intensiver Kontakt mit den Anbietern"
Wie Münchens Mobilitätsreferent Georg Dunkel der AZ sagt, hat die Stadtverwaltung das Problem durchaus im Blick. Seinen Worten zufolge gibt es bereits Fortschritte. "Der Unfall von Herrn Unterstraßer war der Anlass dafür, dass wir intensiver mit den Anbietern in Kontakt getreten sind."
In der Altstadt sei zudem die Regelung der festen Parkflächen geschaffen worden: Wer seinen Roller trotzdem wild abstellt, kann die Fahrt nicht beenden und zahlt weiter. "Die Erfahrungen damit sind gut", sagt Dunkel. Es gebe Überlegungen, die Parkflächen auch auf andere Orte im Stadtgebiet auszuweiten.
E-Scooter in München: Auch Vandalismus ein Problem
Gleichzeitig sei die Möglichkeit, den Scooter überall abstellen zu können, für viele aber auch ein Anreiz. Hinzu kommt dem Mobilitätsreferenten zufolge manchmal absichtlicher Vandalismus: Nicht immer sei sichergestellt, dass ein korrekt abgestellter Roller auch über Nacht am richtigen Ort stehen bleibt.

Dunkel vermutet, dass so auch Unterstraßers Unfall passieren konnte. Den Scooter habe wohl nicht der letzte Nutzer auf die Treppe der U-Bahn gelegt, sondern jemand anderes.
"Wir sind auf jeden Fall weiterhin dran und im engen Austausch mit den Anbietern." Im Gespräch mit ihnen sei zum Beispiel die Überlegung aufgekommen, die Scooter mit einem Signal auszustatten, das Blinde rechtzeitig warnt.
"Es wird schlimmer": Bilanz nach vier Jahren E-Scooter
Für Unterstraßer ist klar, dass sich schnell etwas tun muss. Feste Abstellflächen, die für Blinde auch entsprechend gekennzeichnet sind, hält er für eine mögliche Lösung. Die Parkflächen müssten aber an Orten sein, an denen sie nicht stören, sagt Unterstraßer – direkt neben dem U-Bahnausgang sei kein Platz dafür. "Aber was spricht denn auch dagegen, dass jemand noch 100 Meter gehen muss, nachdem er den Roller geparkt hat?"
Seit der Einführung der Scooter sind vier Jahre vergangen – ohne, dass die Situation sich gebessert habe, wie Unterstraßer sagt. Im Gegenteil: "Ich finde, dass es eher schlimmer wird." Sollte man die Probleme nicht in den Griff bekommen, müsse man eben Konsequenzen ziehen. "Wenn es nicht vernünftig geregelt wird, müsste man sie leider wieder abschaffen." In Paris stimmten bereits 89 Prozent bei einer Bürgerbefragung für die Abschaffung der Mietroller, die Lizenz der Vermieter läuft Ende August aus.
Mobilitätstrainer Bernhard Bug: "Verletzungen sind leider Alltag"
Bernhard Hug hilft als Mobilitätstrainer blinden und sehbehinderten Menschen, sich zurechtzufinden. Der Rehalehrer kennt das Problem mit achtlos abgestellten E-Scootern sehr gut.
Er wird von Betroffenen oft darauf angesprochen, kennt auch einige, die sich bei Stürzen verletzt haben. In der AZ erklärt er, warum die Geräte schwer zu ertasten sind – und wo sie besser abgestellt werden sollten.

AZ: Herr Hug, wie schaffen es Blinde, sich in der Stadt zu orientieren?
BERNHARD HUG: Geübte können in der Mitte des Weges gehen. Unsichere brauchen aber Mauern als Leitlinien, an denen sie sich mit ihrem Stock entlang tasten können, genauso wie Taubblinde. Wenn dort dann Hindernisse stehen, wird es schwierig. Früher waren Fahrräder das Hauptproblem, jetzt sind es die Roller.
Warum ist es so schwer, E-Scooter mit dem Stock zu ertasten? Ist das bei Fahrrädern leichter?
Das Problem ist, dass die Roller so schmal sind. Das sind Fahrräder zwar auch, aber auf einer anderen Höhe. Fahrräder fallen höchstens um, wenn man dagegen läuft. Das kann auch wehtun, aber man merkt es rechtzeitig und fällt nicht hin. Ein Scooter ist dagegen ein schmales und niedriges Hindernis, das man vielleicht erst ertastet, wenn ein Fuß schon drüber ist. Da kann man schnell stolpern. Und sich ernsthaft verletzen, so wie Stefan Unterstraßer. Das ist kein Einzelfall. Verletzungen sind leider Alltag.
Wo sollte man einen E-Scooter am besten abstellen, wenn man so etwas vermeiden will?
Auf keinen Fall mitten auf dem Gehweg oder an einer Hauswand, weil sie da die Orientierung nehmen können. Wenn sie am wenigsten im Weg sein sollen, stellt man E-Scooter an die äußere Leitlinie – also parallel an die Bordsteinkante.
Bringt es etwas, an die Vernunft der Nutzer zu appellieren?
Bisher nicht, es ist zumindest nicht besser geworden. Dabei sind Aufklärungskampagnen schon wichtig: Diskussionen sollten die Leute sensibilisieren.
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