Dramatische Tage in München: Das Jahrhunderthochwasser 1954

München - Vor meinem Fenster in der großen Straße am Isarufer schäumten die braunen Wassermassen bis knapp unter die Brüstung hoch, ganze Bäume samt Wurzelwerk schwemmten sie mit sich. "Die Reißende", wie die Kelten diesen Gebirgsfluss nannten, war richtig in ihrem Element.
Wieder einmal drohte dem wasserreichen Lehel eine Überschwemmung. Krachend prallten die Wogen mit dem ganzen Treibholz gegen die Eckpfeiler der neugebauten Luitpoldbrücke; diese und die Tivolibrücke waren im September 1899 in ähnlicher Situation eingestürzt, die Ludwigsbrücke hatte schon 1813 über hundert Schaulustige mit in den Tod gerissen.

Brennpunkt der Naturkatastrophe von 1954 war aber nicht München, sondern Landshut. Als ich an jenem Julimorgen auf die zahlreichen Helfer an der wahrlich reißenden Isar stieß, wollten die mich sofort einreihen: Ich musste helfen, Sandsäcke zu werfen und am Ufer aufzuschichten. Von der niederbayerischen Hauptstadt aus ging es weiter nach Passau, denn auch der Inn trug gefährliches Hochwasser zur Donau.
Jahrhunderthochwasser 1954: Das waren die Konsequenzen
Die Berichte, die ich Tag für Tag an einige Zeitungen telefonierte, bekamen unter anderem folgende Schlagzeilen: "Noch steigt die Flut! Lasst Bayern nicht im Stich? Acht Opfer des Wassers." – Zwei Tage später: "Gute Nachricht: Die Flut in Bayern geht zurück. Die Wassermassen wälzen sich nun nach Österreich." Und am nächsten Tag: "Alle wollen Bayern Hilfe leisten".
Kein Regen mehr - Polizei München warnt trotzdem vor Isar-Hochwasser
Die "Jahrhundertflut" war noch nicht abgeflaut, als eine alte Idee wieder ins Gespräch kam: die Regulierung des ungestümen Wildflusses bereits im Gebirge. Die obere Isar sollte samt ihrer Zuflüsse angestaut werden. Als geeigneten Ort wählte man das Hochtal zwischen Vorderriss und Fall aus. Was allerdings bedeutete, dass das romantische Dörfchen Fall, das Ludwig Ganghofer in einem mehrmals verfilmten Roman beschreibt, unter den Wassermassen des "Sylvensteinspeichers" – mit einer Oberfläche von sechs Quadratkilometern – verschüttet wurde.
Für den Sylvensteinspeicher: 120 Bewohner mussten umziehen
Schon im Herbst 1954 begannen etwa 500 Arbeiter, Stollen in die Felsen zu sprengen und am unteren Ende des Kessels, wo der Sylvenstein das Tal auf 190 Meter verengt, eine gewaltige Staumauer zu bauen. Zwanzig Häuser fielen der Spitzhacke zum Opfer. Die 120 Bewohner von Fall – Holzfäller, Jäger und Forstangestellte – packten ihr Hab und Gut zusammen und harrten der Zwangsumsiedlung in ein neues Dorf, das auf einer gerodeten Bergkuppe 18 Meter höher gebaut wurde.
Die Techniker planten weit voraus. Das 40-Millionen-Mark-Projekt erlaubte, als Nebenprodukt sozusagen, nur den Bau eines Kleinkraftwerks. Deshalb sprach man bald davon, dass die Sylvensteinsperre später zu einer gigantischen Energiequelle ausgebaut werden könnte. Einen Trost hatte Bayerns Oberste Baubehörde immerhin: "Im Hinblick auf die Atomenergie könnte sich das Projekt als unnötig erweisen."
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Was für ein Irrtum! Nachdem die scheinbar zukunftsichernde Energie der Uranstrahlung infolge mehrere Katastrophen gegen Ende des 20. Jahrhunderts ihren Nimbus eingebüßt hatte und die Wunderanlage von Wackersdorf gescheitert war, wurde an der oberen Isar weitergebaut.
Dem großen Wasserregulator wurden 2004 zwei – relativ kleine – Kraftwerke hinzugefügt. Und der 41 Meter hohe Damm wurde am Sylvenstein noch einmal aufgestockt, wenn auch nur um drei Meter. Mehr Technik verträgt die schöne Landschaft nicht, sie steht seit 1983 unter strengem Schutz.
Im Hotel "Jäger von Fall" in Neu-Fall am Sylvensteinsee findet vom 1. Juni bis 30. September eine Ausstellung über das alte Fall statt.