Dieses Heim zeigt, wie moderne Pflege in München funktioniert
München - Pflege ist Zeit. Anela Bacevac nimmt die linke Hand einer älteren Frau und tastet sie vorsichtig ab. Streichelt sie. Drückt sie. Haut auf Haut. "Es geht darum, überhaupt ein Gefühl zu spüren", erklärt die Pflegefachkraft. Anfangs habe sich die Bewohnerin kaum bewegen können. Jetzt hievt sie sich schon zum 43-sten Mal an diesem Samstagvormittag aus ihrem Rollstuhl. "An einem Tag haben wir ihr beim Aufstehen geholfen, am nächsten hat sie es wieder allein gemacht. Je nachdem wie es ihr ging. Wir haben ihr Zeit gelassen", erzählt Bacevac.
Zu viele Pflegestellen sind unbesetzt
Die Pflegekrise in Deutschland war 2017 bereits in vollem Gange, als die 28-Jährige aus Bosnien-Herzegowina nach Bayern ging, sich als Krankenschwester anerkennen ließ und anschließend eine Fortbildung zur Praxisanleiterin absolvierte. Inzwischen ist die Mutter einer dreijährigen Tochter aufgestiegen zur Wohnbereichsmanagerin im neurologischen Bereich beim Haus an der Effnerstraße vom Münchenstift. Trägt aber wie der Rest der Kollegen eine weiße Hose und einen blauen Kasack. Sie ist eine von Hunderttausenden eingewanderten Fachkräften, auf die die Branche angewiesen ist - laut der Bundesagentur für Arbeit liegt der Ausländeranteil in der Pflege bei 14 Prozent. In Bosnien fand sie keine Stelle. In Deutschland sind zu viele unbesetzt - die Versorgungslücke könnte bis Ende dieses Jahres auf 690.000 Pflegekräfte anwachsen.
Jene, die in dem Bereich noch arbeiten, drohen zwischen Personalmangel und Bürokratieflut zermalmt zu werden. Für eine fürsorgliche Pflege, bei der Bewohner und Betreuer eine enge Bindung entwickeln, bleibt meist nur wenig Zeit. Anders im Haus an der Effnerstraße: Feste Bezugspersonen kümmern sich hier um die drei Wohngruppen. Das schafft laut Bacevac Vertrauen zwischen Pflegekraft und zu Pflegenden. "Viele Bewohner haben sich uns wirklich geöffnet. Das hilft, um auf ihre Bedürfnisse einzugehen", erzählt sie. Wie sich das im Pflegealltag bemerkbar macht, will sie bei einem Rundgang zeigen.

Die Bewohner bestimmen das Tempo
Ihr Arbeitstag geht schon um sechs Uhr morgens los. In der ersten Viertelstunde steht die Übergabe mit den Kollegen aus der Nachtschicht an. Um 4.20 Uhr sei sie schon aufgestanden. Ihre leuchtenden Augen lassen jede Spur von Müdigkeit vermissen. Sie sagt von sich selbst, sie sei ein Morgenmensch. Auch wenn sie nicht arbeite, sei sie schon um sechs Uhr auf den Beinen. Wenig verwunderlich, dass Bacevac mittlerweile nur noch Frühschichten schiebt. Als sich der AZ-Redakteur mit ihr trifft, sind die Medikamente unter den Bewohnern bereits verteilt. Manch einer hat bereits gefrühstückt. "Die Bewohner entscheiden, wann sie frühstücken wollen", sagt die Pflegefachkraft.
Bacevac läuft zum Gemeinschaftsraum an gelben und roten Wänden voller Bilder vorbei. Eines zeigt zwei Palmen bei Sonnenuntergang - ein anderes eine grüne Berglandschaft. Gemalt von den Bewohnern, merkt sie an. Im Wohnbereich wartet Brigitte Vogdt auf sie, die ihre Fortschritte zeigen möchte. Die 62-Jährige bewegt mit Hilfe der Beine und einer Hand ihren Rollstuhl in Richtung ihres Zimmers. "Wenn es zu anstrengend wird, machen Sie eine Pause", bittet Bacevac. Vogdt gesteht, dass sie tatsächlich eine Pause brauche. Sie bleiben stehen, während Bacevac ihre Schulter streichelt. Kurz nach ihrer Gehirnblutung war es Vogdt schwergefallen, mit ihrem Zustand zurechtzukommen. Mittlerweile sei sie jedoch stolz, welche Fortschritte sie bereits gemacht habe. Auch wenn sie möglichst bald wieder zuhause bei ihrem Ehemann leben will, fühle sich das Pflegeheim inzwischen wie ein Zuhause an. "Wir haben hier so eine wunderbare Führung mit Anela, da fühle ich mich sicher und wohl", sagt die 62-Jährige.
"Dieses Gefühl, dass man Menschen helfen kann, ist für mich von großer Bedeutung", sagt die Pflegerin
Das Haus an der Effnerstraße am Odinpark in Bogenhausen wurde 2012 neugebaut. Mit 125 Pflegeplätzen ist es das kleinste Heim des Münchenstifts. Im neurologischen Bereich des Hauses werden 25 Menschen gepflegt, die etwa mit Hirninfarkten, Lähmungen oder Morbus Parkinson zu kämpfen haben. Das Durchschnittsalter von etwa 60 ist für ein Pflegeheim äußerst niedrig.
Gerade als die Pflegerin einen Hebekran und Schalensitz für eine Bewohnerin holen will, hört sie ein Schreien aus einem der anderen Zimmer. Bacevac flitzt los, eine zweite Pflegekraft eilt wenig später hinzu. Der Bewohner habe zu lange auf derselben Stelle gesessen. Wegen seiner Demenz habe er vergessen, nach einer Pflegekraft zu läuten. Solche Zwischenfälle gehörten zur Tagesordnung, sagt Bacevac gelassen. Wirklich Stress bereiten ihr nur medizinische Notfälle, wenn sich etwa jemand verschluckt. Wenn sie denjenigen retten könne, sei das immer eine immense Erleichterung.
"Dieses Gefühl, dass man Menschen helfen kann, ist für mich von großer Bedeutung. Das bin ich", sagt Bacevac. Das war der Grund, warum sie in die Pflege gegangen sei. Sie mag die Abwechslung zwischen der tatsächlichen Arbeit mit den Menschen und der Arbeit im Büro. "Es gibt aber auch Tage, da habe ich keine Lust dazu, die ganze Dokumentation zu erledigen", gesteht die Pflegerin und lacht. Ein Großteil der bürokratischen Aufgaben hat das Haus an der Effnerstraße jedoch digitalisiert: Lagepläne und die Krankheitsgeschichte von Bewohnern lassen sich über ein Smartphone abrufen.
Der emotionale Aspekt der Arbeit ist am anstrengendsten
Als Bacevac die 60-jährige Andrea Maskalidis auf ihrem Zimmer besucht, drehen die beiden eine gemeinsame Runde durch die Gänge des Heims. Maskalidis, die wegen eines Schlaganfalls eine linksseitige Lähmung hat, zieht einen blauen Helm auf und nimmt einen Gehstock zur Hilfe. Die Pflegerin stützt sie zusätzlich.
Als Maskalidis aus Versehen auf Bacevacs Füße tritt, schreit die 60-Jährige erschrocken auf. Entschuldigt sich vielmals. Die Pflegerin streichelt ihren Rücken und beteuert, dass nichts passiert sei. Maskalidis' linkes Sichtfeld ist eingeschränkt. Und auch ihre linke Hand kann sie nur spärlich bewegen. Aber sie sei seit ihrem Schlaganfall weit gekommen. Anfangs konnte sie "nicht allein auf die Toilette", jetzt gehe es ohne Probleme. Ihr Ziel: so beweglich und selbstständig wie möglich zu sein, um ihren erwachsenen Töchtern nicht zur Last zu fallen.
Doch es gibt auch Rückschläge: "Anela tröstet mich, wenn ich unglücklich mit mir bin." Bacevac lächelt sie aufmunternd an. Für die Pflegerin ist der emotionale Aspekt ihrer Arbeit am anstrengendsten. In ihrer Anfangszeit fiel es ihr noch schwer, die Geschichten nicht mit nach Hause zu nehmen. Ihre Augen sind glasig, als sie davon erzählt. Doch wenn Bacevac nach Schichtende um 14.18 Uhr nach Hause geht, kann sie die Arbeit mittlerweile vergessen. Sich Zeit für sich und ihre Tochter nehmen.
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- Bundesagentur für Arbeit