Die Kirche, die die Nazis abrissen
München - Elisabeth Mutz hat in ihren Tagebüchern ihr ganzes Leben aufbewahrt. Es sind Zeugnisse eines bewegten Lebens. Und: Zeugnisse Münchner Geschichte. Zum Beispiel dann, wenn Elisabeth Mutz, 94 Jahre alt, in ihrem gemütlichen Wohnzimmer im Münchner Westen von jenen Juni-Tagen 1938 vorliest, als Adolf Hitler ihr ihre Kirche wegnahm.
Ihr Vater, Georg Plesch, war Krankenhauspfarrer für die Gemeinde der Matthäuskirche in der Altstadt gewesen. Sie selbst war wenige Wochen zuvor noch dort konfirmiert worden. Doch am 9. Juni, so steht es in ihrem Tagebuch, war ihr Vater nach Hause gekommen und hatte gesagt, dass die Kirche "weg soll".
U-Bahn und Parkplätze anstatt der Kirche
Die Kirche stand an der heutigen Sonnenstraße, ganz nah am Stachus. Die Nazis begründeten den Abriss mit dem Bedarf von Parkplätzen, einem geplanten U-Bahn-Bau. Heute glauben Historiker, dass der Abriss der Kirche vor allem ein Racheakt Hitlers an Landesbischof Hans Meiser war, der in der Kirche predigte. Meiser war 1934 in Arrest genommen worden, weil er sich geweigert hatte, seine Landeskirche in einer gleichgeschalteten Einheitskirche aufgehen zu lassen.

Nun also kam der 13. Juni 1938, nur vier Tage, nachdem Pfarrer Plesch seiner Tochter vom geplanten Abriss berichtet hatte. 1600 Gläubige drängten sich in der Kirche. "Am Abend war der große Gottesdienst für die Gesamtkirchengemeinde", so steht es im Tagebuch von Elisabeth Mutz, "Pfarrer Loy hat gepredigt, ganz am Ende sind ihm die Tränen gekommen. Ich selbst habe auch geweint, am Ende wurden die Kerzen ausgeblasen. Loy wurde die Altarbibel überreicht, die Gemeinde sang noch einige Lieder, dann bin ich gegangen." Vor der Kirche wartete schon die Abrissfirma. "Als das letzte Mal die Orgel gespielt hat", sagt Mutz in ihrem Wohnzimmer, "das war sehr ans Herz gehend."
Nach vier Wochen war die Kirche abgerissen
Mutz war später Jahrzehnte lang in der Christuskirche in Neuhausen ehrenamtlich engagiert, sie hat dafür die Bayerische Staatsmedaille für besondere soziale Verdienste bekommen. Heute fällt ihr das Gehen schwer, sie ist auf einen Rollator angewiesen. Wenn es um den evangelischen Alltag in München im Krieg geht, ist sie aber hellwach wie eine junge Frau.

Nur vier Wochen habe der Abriss gedauert, erzählt sie. Dann sei von ihrer Matthäuskirche nichts mehr zu sehen gewesen. "Jeden Sonntag" habe man sich an die alte Kirche erinnert, sagt sie. Die heimatlos gewordene Gemeinde der Matthäuskirche traf sich zunächst im "Weißen Saal" gegenüber vom Polizeipräsidium, später in einem Wirtshaus an der Ruppertstraße zu den Gottesdiensten. Ob das ein guter Ersatz war? "Es war sehr wichtig, dadurch gab es noch einen Zusammenhalt", sagt sie. "Man hat die Gemeinschaft gebraucht, es sind ja dann auch viele Angehörige gefallen."
Heute steht die Matthäuskirche am Nußbaumpark
Ihr Bruder wurde in dem Wirtshaus konfirmiert, sie selbst wurde von ihrem Vater an der Ziemsenstraße, getraut, in der "Notkirche", wie sie sagt aus Holz, die nach dem Krieg errichtet wurde.
1950 beschlossen Kirche und Stadt einen Neubau am Nußbaumpark, der 1955 eröffnet werden konnte. Mutz lebte damals in Franken, aber zur Eröffnung reiste sie an. Vor fünf Jahre, zum 75. Jahrestag des Abrisses, wurden sie und andere Zeitzeugen von der Gemeinde in die Kirche eingeladen. Ein Kelch für das Abendmahl, ein Bild und andere Andenken aus der alten Matthäuskirche zeugen dort vom abgerissenen Gotteshaus. "Die Pfarrer haben sie beim letzten Gottesdienst herausgetragen", erinnert sich Mutz.
Anders als andere Zeitzeugen mag sie auch die neue Kirche. "Es war einfach nur so wichtig, dass die Gemeinde endlich wieder eine Kirche hat", sagt Elisabeth Mutz. Dieses Jahr wird es in der Matthäuskirche keine Erinnerungsfeier zum runden Jahrestag geben.
Aber in der Erinnerung der evangelischen Zeitzeugen wie von Elisabeth Mutz ist dieses Stück Münchner Geschichte immer lebendig.
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