Die "Ausweichstadt" - Münchens große Tochter

Es war ein großartiges Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk, das die Stadt München im Dezember 1958 bekam, kurz vor dem Ausklang ihres 800. Gründungsfestes. Am Morgen nach einer Wahlversammlung seiner Schwesterpartei stattete CDU-Bundesbauminister Paul Lücke dem SPD-Oberbürgermeister Thomas Wimmer einen Höflichkeitsbesuch ab – und platzte dabei mit der Nachricht heraus, die Bundesregierung wolle Mittel für eine Satellitenstadt bereitstellen, um der Hauptstadt Bayerns aus ihrer außergewöhnlichen Wohnungsnot zu helfen.
Aus diesem konkreten Angebot sollte Westdeutschlands größtes Siedlungsprojekt der Neuzeit entstehen; Neuperlach, eine Entlastungsstadt für bisher 49 800 Einwohner und ein Einzugsgebiet von 400 000 Menschen. (Größer ist nur Berlin-Marzahn mit etwas über 100 000 Einwohnern). Die Vorgeschichte wird allerdings in der historischen Rückschau kaum je erwähnt – zum Glück findet sie sich im Archiv des AZ-Reporters.
Es war eine Riesenüberraschung. Von dergleichen Großprojekten war bis dahin in München noch nicht die Rede gewesen. Die Stadtverwaltung hatte lediglich auf zusätzliche Bundesmittel gehofft, damit über das normale Bauprogramm hinaus 10 000 Wohnungen erstellt werden könnten. Jahr für Jahr übersiedelten nämlich rund 30 000 Menschen in die magnetisch anziehende Stadt, deren Einwohnerzahl im Jubiläumsjahr bereits die Ende des Vorjahres erreichte Millionengrenze um rund 12 000 Köpfe überstiegen hatte.
„Auch Bund und Land kann es nicht gleichgültig sein, dass die Verewigung des Wohnungselends einen Herd für politische Unzufriedenheit, Kriminalität und sittliche Missstände zwangsläufig hervorruft“, hatte Baureferent Helmut Fischer die überregionalen Interessen angeschnitten. Nach langem Palaver, wie man das an sich unzuständige Bundeskabinett zur Hilfestellung gewinnen könnte, beschloss der Stadtrat, eine Delegation unter Leitung von OB Wimmer nach Bonn zu schicken.
Ehe man noch die Koffer gepackt hatte, erschien der Bundesminister Lücke wie der gute Nikolaus, um den Münchnern sinngemäß folgendes zu eröffnen: Eine direkte Finanzhilfe sei verfassungsrechtlich nicht möglich. Eine gewisse Möglichkeit ergäbe sich aber, wenn München sich entschließen könnte, eine „Ausweichstadt“ für etwa 30 000 Einwohner zu planen. Gelder ließen sich dann aus dem Fonds des sogenannten Demonstrativ-Programms für Städte lockermachen.
Lücke ging bei seiner Sensationsvorstellung gleich ins Detail. Bonn könnte sowohl die Planungskosten wie die Aufschließung des Geländes übernehmen. Außerdem würde man die Spitzenfinanzierung von acht- bis zwölftausend Wohnungen übernehmen. 60 bis 70 Prozent der Bürger dieser „Stadt in der Stadt“, wie sich der Minister ausdrückte, sollten die Möglichkeit haben, Eigentum an Grund und Boden zu erwerben. „Damit könnten Sie Ihre Stadt auflockern und aufgliedern.“
Im November 1960 beschloss der Stadtrat einen „Gesamtplan zur Behebung der Wohnungsnot“, der nicht weniger als 43 Planungsziele bestimmte. Darunter die Perlacher Haid, wo sich nach der Legende die Römer und Bajuwaren eine Entscheidungsschlacht geliefert haben sollen. Tausend Hektar wurden dort zwei Jahre später als Baugebiet für eine „Entlastungsstadt“ ausgewiesen.
Maßnahmeträger von „Neu-Perlach“ – der ersten Arbeitstitel „Großperlach“ missfiel – wurde 1963 die gewerkschaftseigene Baugesellschaft „Neue Heimat“ . Am 11. Mai 1967, vor nunmehr 50 Jahren, wurde in einem großen Festakt – OB war inzwischen der junge Hans-Jochen Vogel und Bundeswohnungsbauminister dessen Genosse Lauritz Lauritzen – der Grundstein gelegt. „Leider wissen wir nicht mehr den genauen Ort,“ bedauert der Perlacher Heimatforscher Franz Kerscher.
So wuchsen denn erst einmal Betonklötze in einem Halbrund empor, während eine Art Autobahn quer durch das Baugelände trassiert wurde. Immerhin war der von dem Berliner Architekten Bernt Lauter und Manfred Zimmer für 80 000 Menschen entworfene, gewaltige Wohnhausring vier Jahre später fertig. Purer Plattenbau-Populismus, den man durch ein paar schwarze Wandplatten ein wenig aufzulockern versuchte. Auch über die Höhe der Häuser herrschte lange Unklarheit: Von anfangs 18 Stockwerken kam man herunter auf viel weniger Etagen. Kritiker verglichen das Münchner Musterprojekt mit den riesigen Plattenhaussiedlungen der DDR. Sie empfanden viele Häuser als monoton, einfallslos, verwechselbar. Die meisten Straßen und einige Einrichtungen wie das Marx-Zentrum bekamen Namen bedeutender Politiker und politischer Denker, vorzugsweise Sozialisten.
Siemens, Wacker und andere Konzerne siedeln sich an
Allmählich aber, deutlich nach den Olympischen Spielen von 1972, vollzog sich eine „Rückkehr zur Urbanität“. Nicht mehr die Volumen, das Streben nach absoluter Größe waren die Ziele, sondern die menschlichen Dimensionen. Die Neue Heimat, die in einer ersten Ausstellung noch die ganze Hässlichkeit ihres Projekts offenbart hatte, malte sogar eine „Stadt der Zukunft“ an die öden Wände. Nach herben Verlusten und Skandalen jedoch ist das Gewerkschaftsunternehmen, das auch an der Parkstadt Bogenhausen beteiligt war, 1986 liquidiert worden. Ein massives wirtschaftliches Fundament mit zahlreichen Arbeitsplätzen bildete sich dann, als Siemens, Wacker und andere Konzerne zentrale Komplexe an den Südrand der verkehrsmäßig ausgezeichnet angebundenen Tochterstadt verlegten, während Infineon wieder schließen musste.
Einige Geburtsfehler sind leider nicht mehr zu korrigieren
Erst als bereits mehr als 20 000 Menschen in die Wohnblocks von Neuperlach eingezogen waren, bildete sich ein Zentrum, entstanden schön gestaltete Schulen (nicht weniger als 17, darunter eine Europaschule), Kirchen, Einkaufszentren, Gaststätten, Kindergärten, ein Klinikum, ein Hotel, ein eigener Park (außer dem angrenzenden Ostpark) und einige Heime (schließlich sogar eines für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge). In einem Behelfsbau, der sich „Kulturhaus“ nennt, hat sich ein kleines Theater etabliert, das sich sogar an den „Faust“ oder an Stücke in Englisch wagte und zum Jubiläum selbstverfasste Texte sammelt (neuperlachkreativm@kulturbunt-neuperlach.de).
Die Geburtsfehler aber, meint Hartrad in seiner Studie, seien leider nicht mehr zu beheben. Die mangelhaften Freizeitmöglichkeiten, der hohe Ausländeranteil und Ghettobildung brachten diesen 16. Stadtbezirk zeitweise in Verruf. Der Fall des türkischen Jugendlichen „Mehmet“ machte die Jugendkriminalität bundesweit zum Thema. Ein unrentables Schwimmbad musste wieder geschlossen werden, auf den Planken über dem Becken übt jetzt eine Kampfsportschule. Immer wieder hatten die Neuperlacher mit Problemen zu kämpfen.
Bürgerfeste, Stadtteilwochen, Freizeitforen und künstlerische Initiativen sollten die weiter wachsende Betonstadt beleben. Der Eröffnung der „Perlacher Einkaufs-Passagen unter der größten Glaskuppel Europas“ folgten 1981 massive Leerständen in den Subzentren.
Heute ist das PEP mit seinen 120 Läden und 2200 Arbeitsplätzen in einem Kulturgeschichtspfad als umsatzstärkstes Einkaufszentrum Deutschlands bezeichnet. Bis Frühjahr 2018, nach Erweiterung für zwölf Millionen Euro, soll es mit dann 135 Geschäften die größte Shopping-Mall der Stadt werden.
Das anhaltende Hauptproblem aber ist das oft beklagte Ärgernis, dass der vielleicht nicht schönsten, doch größten Tochter der Stadt immer noch das pulsierende Herz fehlt. Seit Jahrzehnten wird über ein Stadtteil-, Bürger- und Sozialzentrum diskutiert. Einen futuristischen Entwurf gibt es bereits. Investoren werden aber noch gesucht.
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