Der Tanz auf dem Vulkan

Zwischen Gigolos und Gschaftlhuber passt immer noch eine Gaudi: Warum der Atem des Faschings die Münchner viele Jahre lang „wie ein Föhn erfasst“ hat.
von  Von Karl Stankiewitz
Prinzenwalzer 1953 mit Inge von Keszycki und Paul Stengel.
Prinzenwalzer 1953 mit Inge von Keszycki und Paul Stengel. © Wolfgang Roucka

München - Jubel, Trubel, Heiterkeit! Kaum je zuvor hat sich Münchens „fünfte Jahres- zeit“ so international, traditionsbewusst und „narrisch“ gegeben wie am Beginn des Jahres 1968, in dem ein revolutionärer Ruck durch die Stadtgesellschaft ging.

Man feierte: 75 Jahre zuvor hatte der Kaminkehrermeister Mayer die Narrhalla gegründet. Seither widmete sich dieser „bürgerliche Verein“ der – wie es in der ersten Satzung umständlich hieß – „Schaffung eines großen Carnevals und der Veranstaltung von öffentlichen Lustbarkeiten zum Zwecke der Förderung der Geselligkeit, der Hebung des Fremdenverkehrs und der Unterstützung wohltätiger Bestrebungen“.

Ein umfangreiches Festprogramm bereicherte im Jubeljahr den ohnehin üppigen Faschingsreigen. Höhepunkt war ein völkerverbindender Kongress, zu dem Narren-Delegationen aus beiden Teilen Deutschlands und aus Österreich zusammenkamen.

Bei einem „rheinisch-bayerischen Kappenabend“ maßen sich die Spaßmacher aus „Krügel“ und „Bütt“. Doch war dieses Gaudi-Olympia mit dem vielen Gerede, mit seiner organisierten Fröhlichkeit und den abgedroschenen Witzen (besonders über Bundespräsident Lübke, der in so manche Fettnäpfe getappt war) kein reiner Spaß und nicht jedermanns Geschmack.

Auch wäre die älteste der satzungsmäßigen Lustbarkeiten, der Faschingsumzug, wegen der finanziellen und baulichen Kalamitäten der Stadt, die für Olympia 1972 rüstete, beinahe geplatzt. Nur durch einen Appell an das goldene Münchner Herz konnte Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel erreichen, dass sich der von ihm gepriesene „Farbtupfer in der grauen Umbauzeit“ doch noch einmal wenigstens auf Nebenstraßen durch die Großbaustelle Münchens bewegte.

Zu allen Zeiten hat sich der Münchner Fasching ja durch allerlei Fährnisse hindurch lavieren müssen. Aber immer noch hat er triumphiert über Krisen und Seuchen, über Geldmangel und Geldschneiderei, über Gschaftlhuberei, Prominentenrummel und Protzerei. Münchens Fasching blieb halt Herzenssache des Volkes, Befreiung vom Ich, von Alltag und Plage – Carne vale. Nicht exklusives Dolce Vita stand an seiner Wiege, kein Party- und Playboy-Getümmel, auch nicht Schunkelseligkeit wie am Rhein. Geburtshelfer war vielmehr ein Ereignis, das die Überwindung von Not und Angst durch trotzige Fröhlichkeit ausdrückte.

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1635, nach Jahren der Pest, waren es die bunt gekleideten Schäffler (Fasslmacher), die sich mit Trommeln und Pfeifen und Narrenpritschen wieder auf die Straßen hinaus wagten, tanzten und die verschreckten Bürger ermunterten. Daran wiederum erinnert alle sieben Jahre – der nächste 2019 – der Schäfflertanz.

Weil der Fasching seinen Platz im Lebensrhythmus dieser Stadt (außer in den düsteren Kriegstagen) behauptet hat, konnten die in anderen Karnevalshochburgen angestellten Erwägungen, das Narrentreiben etwa nach dem blutigen Volksaufstand in Ungarn oder nach Bau der Berliner Mauer zu dämpfen, an der Isar kein Verständnis finden. Münchner Lebensart brauchte das Ventil der offen zur Schau getragenen Freude – nach Krisen erst recht. „Es war so, dass, wenn der Karneval wie ein Föhn über München kam, die Leute, die sein Atem erfasste – und welchen Münchner erfasste er nicht? – , lieber die Uhr, ja ihr Bett versetzten, um nur dabei sein zu können, um nicht ausgeschlossen zu sein, wenn diese Bewegung, die vielleicht das Leben war, durch die Straßen der Stadt brauste.“

So hat der Dichter Wilhelm von Scholz die Stimmung der Jahrhundertwende 1899/1900 wiedergegeben. Sie hat sich bis heute nicht wesentlich geändert. Gewiss, ein billiges Vergnügen ist diese Lustbarkeit nie gewesen. 1956 beschlossen die „Gaukler“, eine der bekanntesten Künstlervereinigungen, nicht mehr mitzumachen: Der Fasching sei durch die allzu vielen Veranstaltungen, durch Wein- und Frackzwang, Ordensverleihungen und andere Zeremonien verwässert und durch die hohen Steuersätze zu einer „Geldbeutelschneiderei“ geworden.

Im Jahr 1958, als es noch keine Mehrwertsteuer gab, haben kluge Köpfe ausgerechnet, dass jeder Münchner, vom Baby bis zum Opa, durchschnittlich zwölf Mark allein an Verzehr- und Getränkespesen für Faschingsbesuche ausgab. Das machte einen Gesamtumsatz von etwa zwölf Millionen Mark, rund eine Viertelmillion flossen an Vergnügungssteuern in den Stadtsäckel.

Die Übernachtungsziffern stiegen in den Faschingswochen durchschnittlich um 45 Prozent. Allein zum Faschingsumzug am 25. Februar 1968 kamen über 100 000 Fremde nach München. Außer den notorischen Faschingsgewinnlern profitieren von dem großen Gaudium zahllose Studenten. Sie stehen als Babysitter, Hausbewacher, Eintrittskartenabreißer, Autolotsen oder Musiker auf Abruf bereit.

Nicht weniger als zehn komplette Tanzorchester hielt der Studentenschnelldienst für den dringenden Bedarf zur Verfügung. Außerdem warteten 30 minderbemittelte Studiker darauf, als Kavaliere alleinstehende Damen auf den Ball führen zu dürfen – natürlich ebenfalls gegen Bezahlung.

Unzähligen Künstlern verschaffte der Fasching Arbeit und Brot – das manchmal ein ganzes Jahr lang anhalten musste (so wie das Oktoberfest manche Kellnerin fürs nächste Jahr ernährt). Sie verdienten vor allem an der Ausstattung der großen Faschingslokalitäten. Bis zu 100 000 Mark wurde in eine solche Veranstaltung gesteckt.

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Im Jahr 1900 feierten „Pieretten, Dachauer und fidele Klauns“

Namhafte Maler waren sich nicht zu schade, die schönsten Ball-Plakate zu entwerfen. Auch der Faschingszug ließ die künstlerische Phantasie kurzfristig erblühen. Schon die erste „Maskenfahrt“ im Januar 1884 war gut organisiert: mit Programm, Orden und Narrenmützen. Im Jahr 1900 umfasste der Umzug nicht weniger als 200 Nummern; man sah „Pieretten, Dachauer und fidele Klauns“.

Die Künstler waren es aber auch, die den Kern des Faschings immer wieder bloßlegten, die ihn bewahrten vor allzu viel künstlicher Drapierung. Das Stadtarchiv hat viele Dokumente dieser Art aufbewahrt. Sie enthalten auch politische Satire. Das geht bis zur beängstigenden Aschermittwoch-Vision von Olaf Gulbransson. Eine andere Zeichnung zeigt, „was das Münchner Kindl als Stigmatisierte in der Faschings-Ekstase sieht“ – es sieht unter anderen einen gewissen Hitler.

Auch in seiner Blütezeit war der Fasching ein Tanz auf dem Vulkan. Der von 1968 war es ganz besonders. Er war der fröhlich plakatierte Auftakt gesellschaftlicher Umbrüche, die bis heute nachwirken.

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