Der Kampf um den Linksruck in Münchner SPD

Vor genau 50 Jahren erlebt die SPD eine heftige Revolte. Junge Aufrührer übernehmen den Unterbezirk – und schießen auch gegen OB Hans-Jochen Vogel. Franz Josef Strauß sieht es mit Vergnügen.
von  Karl Stankiewitz
Franz Josef Strauß bei einer Rede 1970 in München. Im Landtagswahlkampf nimmt er immer wieder die chaotische Münchner SPD ins Visier.
Franz Josef Strauß bei einer Rede 1970 in München. Im Landtagswahlkampf nimmt er immer wieder die chaotische Münchner SPD ins Visier. © imago images/photothek

München - Die Zeitungen titeln: "Machtwechsel", "Verjüngung" oder "Linksruck". Eine riesige Überraschung für die Münchner Kommunalpolitik ist es allemal, was der sozialdemokratischen Führung in der größten deutschen Stadtgemeinde am 21. Februar 1970 widerfährt: Nach 16 Jahren Amtszeit wird der 64-jährige Vorsitzende Hans Demeter von seinen Genossen regelrecht vertrieben und mit ihm der komplette Vorstand des Unterbezirks. Stattdessen wählt ein Parteitag neue Leute, die den meisten Münchnern unbekannt und manchen nicht ganz geheuer sind. Damit beginnt ein Prozess, der den mit rund 12.000 Mitgliedern stärksten deutschen SPD-Ortsverband – ausgerechnet 100 Jahre nach seiner Gründung – auf Jahre umtreiben und schwächen soll.

Junge Studenten drängen in die Partei. Der Ton: oft rau und zynisch

Was ist geschehen? Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, den die Neuen trotz anhaltender Popularität auch nicht mehr für unantastbar halten, fasst zwei Jahre später in seinen Erinnerungen die Ursachen zusammen: Seit 1967 wandern jüngere Neumitglieder "mit agitatorischem Geschick" durch die Sektionen (heute Ortsvereine); sie machen Stimmung gegen die Große Koalition in Bonn und die Parteiführung in München. "Manche kamen und verschwanden wie Kometen."

Als Stadtreporter habe ich hautnah erlebt, wie sich das Innenleben der Münchner Sozialdemokratie im Gefolge der Studenten-Revolte verändert hat. Die Diskussionen werden radikaler, oft intolerant. Die meist studierenden, fast nur männlichen Jungsozialisten geben den rauen, oft zynischen Ton an. Das Godesberger Programm mit seinen Reformvorgaben gilt für sie nur noch bedingt. Dafür paktiert man mit der APO, der "Außerparlamentarischen Opposition". Bonner Minister sind als Redner nicht mehr gefragt. Marx, sogar Lenin werden zu Ideengebern. Altgediente Genossen verstehen die neuen Schlagworte kaum. Sie ziehen sich immer mehr zurück und überlassen der "dogmatischen Linken" das Feld, zumal die regelmäßigen Sektionssitzungen in verqualmten Hinterzimmern von Wirtshäusern immer länger in die Nacht hinein dauern. Auf diese Weise können die Basis-Verhältnisse verändert und Mandatswahlen gesteuert werden. Denn die Arbeiter, die morgens wieder aufstehen mussten, können nicht bis in die Nacht diskutieren.

Franz Josef Strauß bei einer Rede 1970 in München. Im Landtagswahlkampf nimmt er immer wieder die chaotische Münchner SPD ins Visier.
Franz Josef Strauß bei einer Rede 1970 in München. Im Landtagswahlkampf nimmt er immer wieder die chaotische Münchner SPD ins Visier. © imago images/photothek

Die Neuen kämpfen "mit allen Kniffen und Listen", zitiert der bald nachfolgende Oberbürgermeister Georg Kronawitter, der ebenfalls noch in den roten Reißwolf geraten wird, neun Jahre später eine Losung des Genossen Lenin (zu dessen 100. Geburtstag im April 1970 Verehrer aus dem Sowjetreich seine Schwabinger Exil-Wohnung suchen). Dem Abgeordneten Dr. Günther Müller, der "kommunistische Infiltration" wittert, wird ein Parteiordnungsverfahren angehängt; da wechselt der frühere Bundesvorsitzende der Jungsozialisten zur CSU und wird einer der getreuesten Strauß-Gehilfen. Ein anderer SPD-Abgeordneter, der Vertriebenenpolitiker Dr. Herbert Hupka, sammelt einen konservativen "Kurt-Schumacher-Kreis"; auch er geht später zur CDU.

Im Vorstand der SPD sitzen nur noch Akademiker unter 40

Vergebens versucht München-Chef Demeter, der den jungen Juristen Vogel 1960 gegen den Wunsch des biederen OB Thomas Wimmer aufs Schild gehoben hat, den stürmischen Nachwuchs zu bremsen und für kommunalpolitische Reformen zu gewinnen. Er stellt fest: "Manche glauben, sie stehen links, sie stehen rechts." Auch der alte Gewerkschafter Ludwig Koch, der in Zuchthäusern der Nazis gesessen hat, wirft das Handtuch als letzter Vertreter des Arbeiterstandes im Parteivorstand. Und so geht es reihum. Die Bonner SPD-Führung kann sich über die "Münchner Provinzposse" nur noch ärgern. Selbst Vogel, der schwer beschäftigt ist mit Olympiavorbereitungen, Stadtumbau und beginnendem RAF-Terrorismus, wird manch Bonner Spott zuteil.

Wohin der Weg gehen soll, bestimmen fortan die fünf Linkssozialisten des geschäftsführenden Vorstands, alle zwischen 34 und 36 Jahre alt, alle Akademiker (sogar der Kassier trug den Doktortitel). Der Weg weist über München hinaus: Zusammen mit den Sozis in Frankfurt, wo ein ähnlicher Wechsel erfolgt ist, und jenen im längst dunkelroten Kiel will man eine "linke Achse" schmieden, verkündet der neue Vorsitzende Dr. Helmut Meyer, Lehrer und Sohn eines Fabrikarbeiters, am 24. Februar auf einer Pressekonferenz. Eine Avantgarde der Gesamtpartei soll damit entstehen. München dürfe nicht nur wegen der Olympischen Spiele und des Oberbürgermeisters bekannt sein.

Neue U-Bahnhöfe werden bekämpft – so wie die Gasteig-Pläne

Meyer geht gleich ans Werk: Er fordert die sofortige Senkung der Rüstungsausgaben, versichert aber auch: "Keiner von uns will morgen die Revolution anführen." Siegmar Geiselberger, Chef der Münchner Jusos (und somit Vorgänger des Jura-Studenten Christian Ude, der derweil noch an einem Neustart der traditionsreichen "Münchner Post" bastelt), fordert mehr: Die Großstädte sollten Modelle für "demokratischen Sozialismus" entwickeln. Das heißt: kostenloser Massenverkehr, klassenlose Krankenhäuser. Banken und Produktionsmittel bleiben vorerst verschont.

Auch Oberbürgermeister Vogel und die ihm treu gebliebenen SPD-Stadträte haben wenig Erfolg mit ihren Bemühungen, die linken Emporkömmlinge in die konkrete Stadtpolitik einzubinden. Diese interessiert viel mehr der Kampf gegen den deutschen Faschismus, den amerikanischen Imperialismus und den globalen Kapitalismus. Tatsächlich triumphiert in der boomenden Olympiastadt der Profit. Laut statistisch ermitteltem "Brotkorb" ist München 1970 die teuerste deutsche Stadt geworden. Was den neuen SPD-Vorstand vermuten lässt, "dass die Wirtschaft die günstige Marktlage in unserer Stadt zum Teil rücksichtslos und selbstsüchtig ausgenützt hat".

Willy Brandt (links) mit Hans-Jochen Vogel 1970 auf der Baustelle des Olympiastadions. In diesem Jahr entscheidet Vogel, nach Bonn zu wechseln.
Willy Brandt (links) mit Hans-Jochen Vogel 1970 auf der Baustelle des Olympiastadions. In diesem Jahr entscheidet Vogel, nach Bonn zu wechseln. © imago images/WEREK

Heftig wehren sich die jetzt tonangebenden Sozis, unterstützt vom IG-Metall-Vorsitzenden Erwin Essl, gegen gerade angedachte Großprojekte, insbesondere das Kulturzentrum am Gasteig und das Europäische Patentamt, wo jeweils Altbauten fallen sollten. In Wohngegenden geplante U-Bahn-Stationen, etwa im Lehel, erscheinen ihnen ebenfalls suspekt, weil sich rundum der verhasste Kommerz ausbreiten könnte. Unvermeidlich ist denn auch der Konflikt mit den Genossen im Rathaus, zu deren Fraktionssitzungen der Vorstand einen Aufpasser beordern will.

Am 19. März 1970 kommt es zur Krisensitzung. In einem Nebenzimmer beschließen zwölf Vorstandsmitglieder der Bayern-SPD und die Münchner Vorstandschaft unter strenger Geheimhaltung, dass der so umstrittene Hans-Jochen Vogel im Olympiajahr 1972 aus der Kommunalpolitik aus- und in die Bundespolitik einsteigen soll. Bundeskanzler Willy Brandt, der sich genau am selben Tag in Erfurt mit dem DDR-Kollegen Willi Stoph trifft und vom Volk umjubeln lässt, gibt seinen Segen zum "Kompromiss"; er hat den Münchner schon früher in sein Kabinett locken wollen.

Die CSU beschimpft die Münchner Sozis als "Anarchisten-Freunde"

Am 27. Mai ertönt das Signal zur großen Vogel-Jagd. Weil eine von linken Demonstranten bedrängte Feier von Anhängern der griechischen Junta durch 400 städtische Polizisten geschützt wird, müssen sich der OB und sein durchaus liberaler Polizeipräsident Dr. Manfred Schreiber (noch SPD) im Schwabingerbräu als "Faschistenfreunde" beschimpfen lassen. Vogels langer Rechtfertigungsbericht wird von den Jusos als "Hirtenbrief" ausgepfiffen.

Auf dieser Delegiertenkonferenz wird auch gleich ein neuer OB-Kandidat gekürt: der 34-jährige, mundarttreue Staatsanwalt Dr. Manfred Schmidt, der wie Ludwig Thoma seine Sporen am Dachauer Amtsgericht erworben hat. Schmidt bekennt sich als "linksradikal, wenn man so will". Ein letzter Annäherungsversuch zu einer gemeinsamen Basis scheitert am 1. Juni um 3 Uhr morgens. (Schmidt wurde doch nicht Kandidat, sitzt dann aber viele Jahre für München-Mitte im Bundestag).

Der CSU indes bietet die einzigartige Misere des politischen Gegners im Herbst 1970 reichlich Munition für den bis dahin schmutzigsten Landtagswahlkampf. Pausen- und hemmungslos werden die SPDler schlechthin als Freunde von Anarchisten und Kommunisten angeprangert oder gar in die Nähe von Terroristen und "Pornografen" gerückt. "Die werden uns noch kennenlernen", droht Parteiführer Franz Josef Strauß in einem Gilchinger Bierzelt und verheißt "Rettung aus den bayerischen Bergen". Erfolglos kontern Politiker der SPD und auch der FDP, dieser Angst- und Panikmache durch straf- und zivilrechtliche Schritte.

Die weiteren Folgen in Kürze: Erstmals seit 1946 erobert die CSU im November 1970 die absolute Mehrheit, während die SPD zwar in München stark verliert, im Freistaat aber immer noch ein Drittel der Wählerstimmen einheimsen kann. Kurzfristig erwägt Vogel, sich ganz aus der Politik zurückzuziehen, er belässt es dann aber beim Abschied aus dem Rathaus – und bleibt der Politik und seiner geschundenen Partei bis zum heutigen Tag aufs Engste verbunden.

Die Ausstellung "150 Jahre SPD München" läuft noch bis 13. März bei der Pasinger SPD in der Alten Allee 2, Montag bis Donnerstag 10 Uhr bis 17 Uhr.

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