Bis Kriegsende: So hat sich die Armut in München verändert

München - Mit der Blüte des Kapitalismus wurde die Armut in den europäischen Großstädten – München war seit 1870 die größte Stadt Süddeutschlands – zum Thema der Gesellschaft.
Hatte Charles Dickens schon 1861 in seinem Spätwerk "Große Erwartungen" das erbärmliche Leben in Londoner Vorstädten geschildert und Victor Hugo 1862 die Elenden ("Les Miserables") literarisch gewürdigt (der Roman wurde nicht weniger als 57 Mal verfilmt), so alarmierte Heinrich Mann, der von 1893 bis 1928 in München lebte, im Ersten Weltkrieg mit dem Roman "Die Armen" (während Bruder Thomas das ganz andersartige Elend großbürgerlicher Familien bestsellerte).
Die Miete für ein Bett in der Klinik muss selbst bezahlt werden
München war längst ein Brennpunkt des neuen "Proletariats". Als der Krankenhausarzt Dr. Karl Oppenheimer – oft waren es jüdische Mitbürger, die sich der Unterschicht annahmen – nach mehrjährigen Untersuchungen feststellte, dass Kinder aus den Arbeiter- und Armenvierteln häufiger als andere unterernährt waren, führte die Stadt immerhin eine regelmäßige Schulspeisung ein. Und bald eine Tuberkulosen-Fürsorge, man sprach von der "Proletarier-Krankheit TBC".
Im Übrigen kümmerten sich vier städtische Spitäler um arme Bürger. Sie hatten allerdings lange Wartelisten und waren ständig überfüllt. Die Miete für ein Bett im großen Schlafsaal und die Speisung musste der als arm anerkannte "Pfründner" selbst zahlen.
Bürger mit Armenunterstützung: Bis 1918 kein Wahlrecht
Am 7. August 1909 beschloss der Magistrat eine Reorganisation der Armenpflege. Erstmals sollten nun – "angesichts der günstigen Erfahrungen besonders in außer-bayerischen Gemeinden" – auch Frauen mitwirken. Finanziert wurde das Unterstützungsprogramm durch eine Erhöhung der Lustbarkeitssteuer, einer Vergnügungssteuer. Im Folgejahr schlug der Ausgabe-Posten im Stadthaushalt mit genau 3.178.799 Mark zu Buche.
Weil jedenfalls ein "unausgesetztes Wachsen der Armenlast" zu verzeichnen war, blieb die Stadt auf Spenden von Privatleuten angewiesen. Den höchsten Betrag, nämlich 8.182 Mark, gab der jüdische Justizrat Nathan Boscowitz. Die Kehrseite: Noch bis zur Revolution von 1918 musste jeder Bürger, der Armenunterstützung in Anspruch nahm, auf das Wahlrecht verzichten.

Karl Scharnagl besinnt sich auf die soziale Verantwortung der Stadt
Der schrecklichen Not nach dem Ersten Weltkrieg, die weit über die Unterschicht der Gesellschaft hinausgriff, folgte wiederum eine strukturelle Armut. Sie grassierte besonders in den Stadtvierteln mit verhältnismäßig niedrigen Mieten, wozu nicht mehr nur die im Osten gehörten, sondern auch das Westend. Rückgebäude wurden, wie eine Zählung ergab, von mehr als zehn Arbeiterfamilien mit bis zu sechs Kindern bewohnt. Mehrere Wohnungen in den Mietskasernen hatten zusammen eine Wasserleitung mit Ausguss und ein Klosett auf dem Flur oder Hof.
Architekten, Baugenossenschaften und Wohnvereine suchten nach alternativen Modellen, musterhaft war die Borstei. Unter Karl Scharnagl, Oberbürgermeister von 1928 bis 1930, besann sich auch die Stadt wieder ihrer sozialen Verantwortung.
Unter den Nazis kommen "Asoziale" ins KZ nach Dachau
Sie initiierte ein Programm für fünf Wohnsiedlungen mit kleinen Häusern. Ärmeren und älteren Bürgern wurden dafür sogar Kredite gewährt. Ende 1930 wurden in München noch 80.000 Menschen vom Wohlfahrtsamt unterstützt, 40.000 lebten von der Arbeitslosen- und Krisenvorsorge.
"Niemand soll hungern und frieren"; als der demokratische Rechts- und Sozialstaat verloren war, klang es sehr verlockend, was die in München gestarteten Nationalsozialisten dem Volk versprachen. In ihrer irren Ideologie meinten sie jedoch, Armut und Elend einfach "ausmerzen" zu können wie andere unerwünschte Erscheinungen.
Ein Film von Karl Valentin wird verboten
Natürlich lebten weiterhin Menschen am Existenzrand, doch sie sollten öffentlich nicht mehr in Erscheinung treten. Der Verdrängungsprozess ging so weit, dass 1935 ein Kurzfilm des Komikers Karl Valentin verboten wurde, weil er "Elendstendenzen" zeigte. (Der Streifen tauchte später in einem Moskauer Archiv auf).
Propaganda bestimmte also auch die Sozialpolitik im Dritten Reich. Eine der populärsten Maßnahmen war das "Winterhilfswerk". Uniformierte Pimpfe (wie der Autor dieser Zeilen) mussten an Sonntagen auf der Straße mit der Büchse scheppern und Papier- oder Blechabzeichen verkaufen. Nie wurde bekannt, welche Erträge schließlich an welche Volksgruppen gingen.
Die Sozialversicherungen wurden ihrer Selbstverwaltung beraubt. Die freien Wohlfahrtsverbände durften nur noch Altersheime oder Werkheime betreiben und Pflegepersonal in Krankenhäusern stellen. Das städtische Wohlfahrtsamt indes hatte sich hauptsächlich um "Asoziale" zu kümmern, viele von denen ließen die Beamten direkt ins Konzentrationslager Dachau deportieren. Zu ihren Aufgaben gehörte außerdem die Unterstützung von kinderreichen, natürlich nur nachweislich "arischen" und "erbgesunden" Familien – und später von Soldaten-Witwen.
Nach dem Krieg kommt der große Hunger über die Stadt
Eine Parteiorganisation, die "Nationalsozialistische Volkswohlfahrt", sollte zentral dafür sorgen, dass alle Volksgenossen ausreichend versorgt wurden, und schon deshalb nicht am Führer zweifelten. "Er gibt euch euer täglich Brot und rettet euch aus aller Not", wurde schon den Kleinsten in den NSV-Kindergärten eingebläut. 1941 wurden 137 Lastwagen mit Kleidungsstücken von ermordeten Juden an die NSV ausgeliefert. Im selben Jahr wurden – einer der seltenen Lichtblicke – die Rentner in die Krankenversicherung übernommen.
Wer nicht zur arischen Volksgemeinschaft gehörte – und das waren etliche Millionen – hatte selbstverständlich keinerlei Anspruch auf soziale Fürsorge. In Lagern und Baracken durften die Ausgegrenzten darben und verrecken. Aber auch unter den gewöhnlichen Volksgenossen gab es eine ärmere Klasse.
Mangel an Seife: Krätze greift um sich
Neuere Untersuchungen belegen, dass die unteren Einkommensschichten in der NS-Zeit höher besteuert wurden als in fast allen anderen Industrieländern. Die staatlich reglementierte, von elf Millionen Mitgliedern finanzierte "Volkswohlfahrt" sollte ja auch weniger die individuelle Not lindern, als vielmehr einen "möglichst hohen Leistungsstand des deutschen Volkes" sichern.
In der Zeit danach war Armut der Normalzustand. Jetzt galt das Gegenteil der Nazi-Parole, jetzt mussten alle hungern und frieren. In zerstörten Städten wie München herrschte bitterste Not. Auf sie rollte eine Welle von Heimkehrern aus Lagern, von Flüchtlingen und Evakuierten zu, während sich die Versorgungslage dem Nullpunkt näherte. Sie drückte sich nicht mehr in Arbeitslosigkeit oder Geldmangel aus, sondern unmittelbar in Hunger, Einsamkeit, Verzweiflung, Krankheit, die manchmal ganz banale Ursachen hatte: Weil es an Seife und Waschmitteln mangelte, häufte sich die Krätze.
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