Ausstellung am Hauptbahnhof: Das süße Nichtstun

Gehen Sie mit Ihrer Zeit sinnvoll um? Klar, wir könnten uns besser organisieren, es darf ja kein Leerlauf aufkommen. Schlimm wird es aber erst, wenn wir warten müssen. Verlorene Zeit! Dabei sagen uns die Hirnforscher seit Jahren, dass wir beim Blöd-in-die-Landschaft-Schauen kreativ sind. An der Bushaltestelle, am Flughafen und natürlich auch am Hauptbahnhof. Wobei dort das Warten derzeit – geplant kreativ – gefüllt ist: mit Kunst, die im Rahmen des 13. „RischArt_Projekts“ zwischen den Gleisen, in Wartezonen, vor den Schalterhallen und sogar unter der Erde zu finden ist.
„La Paloma“ und die Unruhe des Sekundenzeigers
Was nahe liegt: Die von Großbäcker Müller-Rischart und Kuratorin Katharina Keller eingeladenen Künstler beschäftigen sich just an diesem hektischen Ort mit dem Thema „Warte Zeit“. Da kann es leicht vorkommen, dass man an einem der Gleise mit „La Paloma“ und anderen Sehnsuchtsliedern begrüßt wird – und im Bann von Ute Heims Sirenengesang ganz vergisst, dass es bis zur Abfahrt ja nur noch drei Minuten sind. Grad egal, dann einfach den nächsten Zug nehmen. Die Zwischenzeit ist gut gefüllt.
Da wäre zum Beispiel Matthias Beckmanns Schreibstube in der Hauptschalterhalle. Der Künstler hat Reisende in diesem Bereich gezeichnet, seine Bilder sind auf Postkarten und Ausmalbögen gedruckt – und man kann sie mit Farbe füllen, beschreiben… und dabei einfach zur Ruhe kommen.
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Gleich in Reichweite steht ein grüner Bauwagen mit kuriosem Gehalt. Veronika Veit hat im Inneren einen Überwachungsraum geschaffen, dessen Kontrolleure nur auf einem Video zu sehen sind, aber die Fantasie der Betrachter durch meist absurde Aktionen ganz unmittelbar ankurbeln. Der Titel lässt zwar auf „bessere Zeiten“ hoffen, doch die Szenerie hat eher etwas von „Warten auf Godot“.
Weit zurück in die Zeit vor fünfzig Jahren geht Dörthe Bäumer mit ihren Schließfach-Installationen. In jedem der fünf Spinde erzählt sie ein kurzes Gastarbeiterschicksal mit wenigen aussagekräftigen Requisiten. Wobei die alten Porträt- oder Familienfotos den öffentlichen Ort ganz schnell zum intimen kleinen Erzählkabinett mutieren lassen. Und natürlich spinnt man die Erinnerungen unwillkürlich weiter in die Gegenwart. Zu Flucht und Vertreibung, Heimatlosigkeit – das ist die überzeugendste Arbeit des aktuellen Projekts.
Die Schließfach-Geschichten korrespondieren übrigens mit Willi Dorners künstlerischer Intervention „Endstation Zukunft“ im unterirdischen Bunker neben Gleis 11. Hier entschied sich das Schicksal von Tausenden Griechen, Italienern, Serben, Kroaten…, die seit den 60er Jahren in Bayern ihr neues Glück suchten. Was im kühlen Raum in der Tiefe passiert, muss jeder selbst erkunden (nur nach Voranmeldung).
Ein sichtbares „Zeitfenster“ öffnet sich auf der Galerie im Obergeschoss, wo Franziska und Sophia Hoffmann eine Installation aus zwölf Bahnhofsuhren geschaffen haben. Auch die könnte man genüsslich ins Visier nehmen, um die Zeit zu vergessen – oder erst recht über sie nachzudenken. Und wer mit seinem ganz persönlichen Zeitfenster oder dem Warten an sich (noch) nicht zurechtkommt, lädt sich am besten die App der Künstlergruppe Ligna herunter – www.linon.de – und lässt sich vom Audioguide zum süßen Nichts-Tun verleiten.
RischArt_Projekt 2015 am Hauptbahnhof, bis 19. Juli, 10 bis 20 Uhr
Öffentliche Kuratorenführungen So, 12. und 19. Juli, 11 Uhr, Treffpunkt: RischArt-Info in der Hauptschalterhalle