Aus Odessa nach München: So läuft es in der Schule und im Sportverein
München - Ob sie zurückgeschaut hat oder nach vorne, in den sieben Tagen der Flucht war einfach nur Chaos, überall. Hinter ihr die russischen Panzer, die in ihr Land eingefallen sind. Oma und Opa, die trotzig bleiben wollen, weil sie ukrainische Sanitäter sind und gebraucht werden. Die Freundinnen aus der Schule in Odessa, über Nacht in alle Winde verstreut.
Und vor sich? Sah Lina (16) nur fremde Länder, Moldawien, Rumänien, Ungarn, Österreich, dann München, ein Mädchen, wie verloren im unbekannten Irgendwo.
Heute, am Tag 35 von Putins brutalem Angriffskrieg gegen ihre Heimat, scheint die Sonne schon ein bisschen heller über Lina. Für die erste Woche fand sie ein privates Obdach mit ihrer Mama Tanya und ihrem Stiefpapa Eugen. Erst mal konnten sie ausruhen, nach Hause telefonieren, Gedanken sortieren.
Die Ersten, die die Hände reichen, sind die Handballmädchen
Von 19 Mitschülern ihrer 10. Klasse haben in den ersten Kriegstagen zehn schon das Land verlassen, erfährt sie von ihrer ukrainischen Klassenlehrerin. Die Freundinnen und Freunde sind zerrissen, gestrandet in Moldawien, Polen, Tschechien und in der Schweiz. Anfangs gibt die Lehrerin noch Onlineunterricht, "sie sitzt im Luftschutzkeller", erzählt Lina, während sie versucht, Chemie zu verstehen. Gut, dass sie ihr Tablet dabei hat, und WLAN in der Gastwohnung.

Später findet ihre Mutter eine Arbeit als Köchin bei einem Münchner Wirt, dazu, was für ein Glück, auch ein festes Dach über dem Kopf. Und auch für Lina machen helfende Hände das Ankommen plötzlich ganz leicht.
Die ersten sind die Handball-Mädchen der B-Jugend vom TSV München-Ost. Als sie über die Trainerin Bärbel Wossagk davon hören, dass ein ukrainisches Teenagermädchen, genauso alt wie sie und Handballerin, in München gestrandet ist, machen sie die Arme weit auf. Auch Hallenschuhe könne sie kriegen, lassen sie wissen. Und dass sie sich schon auf sie freuen.

Sie holen Lina zum Training in die Sporthalle am Ostbahnhof, nehmen sie in ihre Whatsapp-Gruppe auf, damit sie verfolgen kann, wer sich wann wo zum Training trifft. Inzwischen hat das Mädel auch ein Radl, mit dem sie selbständig in der neuen Stadt herumkurven kann. Verständigen? Das machen sie mit Gesten und einer Übersetzungs-App in den Handys, denn Lina hat in der Ukraine nur mal ein paar Monate Deutsch gelernt und versteht noch nicht so viel.
"Die Mädchen sind so nett", wird Lina später daheim glücklich erzählen, voller Freude, dass sie, wie in Odessa, im Tor stehen darf. Und: "Es ist toll, dass ich nicht mehr alleine bin und wieder Handball spielen kann."
Die Schuldirektorin wartet nicht, sie wagt einen Blitzstart
Die allerbeste Nachricht bringt dann auch ein Handballmädchen mit: dass das Theresia-Gerhardinger-Gymnasium in der Altstadt, eine Mädchenschule der Armen Schulschwestern, eine 10. Klasse für ukrainische Mädchen gründet, als Überbrückungsklasse zum Deutschlernen. Die Schuldirektorin Anita Kilger wartet auf keinen Behörden-Startschuss oder eine Geldspritze vom Staat, sondern wagt einfach einen Blitzstart - Lina ist dabei.
"Die Begrüßung war schön", sagt Lina, "in unserem Klassenzimmer waren lauter Bilder mit ukrainischen Farben und Herzen an der Wand". Und es sei überraschend und schön gewesen, wieder Mädchen zu treffen, die ihre Sprache sprechen.

Trotzdem geht es jetzt erst mal darum, dass die neu angekommenen Mädchen so schnell wie möglich Deutsch lernen, sich in München zurechtfinden, dabei helfen ukrainische Lehrkräfte, die die Schule gewinnen konnte. "Das Alphabet war das erste, was wir gelernt haben", sagt Lina, "und sogar Mittagessen bekommen wir in der Schule".
Was ihr sonst noch gefällt in ihrer neuen Stadt? "Die Radwege", sagt sie, und lacht, "in Odessa gibt es keine Straßen für Fahrräder, es ist unmöglich, dort so herumzufahren wie hier. Und ich glaube, die Münchner sind netter zueinander als die Leute bei uns daheim."
Daheim, besser nicht so oft daran denken. Als sie zuletzt mit ihrer Freundin Sofia telefoniert hat, "da hat ständig die Sirene geheult", sagt Lina. Es geht ihr besser, wenn sie nach vorne schaut.