Alt-OB Ude zur Hochhaus-Debatte: "Wir brauchen einen neuen Bürgerentscheid"
München - Als Oberbürgermeister war er ein Verfechter von Hochhäusern - bis ihn ausgerechnet sein Vorgänger Schorsch Kronawitter 2004 mit einem Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ausbremste.
Und heute? Ist Christian Ude selbst Alt-Oberbürgermeister - und fordert einen neuen Hochhaus-Entscheid. Ein AZ-Gespräch über Irrtümer der Vergangenheit - und rote Linien, die Bestand haben.

AZ: Herr Ude, 2004 haben Sie argumentiert, ein Hochhaus-Stopp sei ein "fatales Signal für den Wirtschaftsstandort". Nun kamen seitdem keine neuen Hochhäuser - dafür aber Google, Apple, Microsoft in die Stadt. Haben Sie sich damals geirrt?
CHRISTIAN UDE: Ich denke nach wie vor, dass die Hochhaus-Grenze mit 100 Metern anachronistisch ist. Dass sie auch willkürlich ist, sieht man ja daran, dass Münchens beliebtestes und schönstes Hochhaus, nämlich das an der Isarhangkante von Bea und Walter Betz - unter Georg Kronawitter genehmigt! - 114 Meter hoch ist. Aber die Abkehr von Hochhäusern hat viel mehr Gründe, als ich mir damals klarmachen konnte.
Nichtsdestotrotz: Der Hochhaus-Stopp hat die Wirtschaft offenbar nicht am Florieren gehindert.
Die wirtschaftliche Bedeutung wurde damals von beiden Seiten übertrieben. Die Hochhaus-Gegner warnten vor leerstehenden Planungsruinen, wir Befürworter vor einem wirtschaftsfeindlichen Ruf, wenn Baurecht nachträglich verringert wird. Beides war übertrieben: Es gibt kein einziges leerstehendes Hochhaus in München, und die Attraktivität der Stadt als Wirtschaftsstandort ist trotz 100-Meter-Grenze nicht geschwunden. Die Meinungen sind aber nach wie vor kontrovers. Es war doch letztlich einfach eine Abstimmung zwischen unterschiedlichen Geschmäckern und Lebensgefühlen. Ich kann auf jeden Fall inzwischen immer besser verstehen, dass es Abwehr gibt gegen neue Hochhäuser. Und ich kann auch verstehen, dass es ein konservatives Lebensgefühl gibt, das eine Stadtsilhouette vor allem in der Altstadt überhaupt nicht verändern möchte.
Heute argumentiert Ude gegen die 100-Meter-Grenze
Wenn Sie diese Punkte so betonen, hat sich Ihre Meinung zum Thema offenbar schon geändert.
Ich würde auch heute gegen eine starre 100-Meter-Grenze argumentieren. Aber nicht mit so viel Übereifer wie damals. Der Anspruch weltweit agierender Unternehmen, historisch gewachsene Städte zu dominieren, ist ja wirklich fragwürdig. Und: Ich habe Bedenken wegen des vertikalen Verkehrs, der so viel Fläche frisst. Je höher ein Hochhaus wird, desto mehr Fläche brauchen die Aufzüge in sämtlichen Stockwerken. Da spielt die Ersparnis an Bodenfläche eine immer geringere Rolle. Und auch ökologisch sehe ich durch den Energiebedarf ständig steigende Probleme.
Gefällt Ihnen die Skyline in London oder Frankfurt nicht?
Die Hochhausfrage stellt sich von Stadt zu Stadt anders. In London, für mich eine Stadt europäischer Geschichte, bin ich bestürzt über die reingeklotzten Hochhäuser. Und ich kann mich auch mit Frankfurt nicht wirklich anfreunden, auch im Bankenviertel nicht. Aber es gibt andere Städte, wo gerade die Hochhäuser nostalgische Gefühle wecken, ästhetische Reize ausüben, wie zum Beispiel in New York oder Chicago. Die kann sich doch kein Mensch ohne Hochhäuser vorstellen.
Schauen wir noch mal kurz auf 2004: Wie konnten Sie denn damals die Stimmung in der Bevölkerung so falsch einschätzen?
Über Hochhaus-Themen haben sich zunächst nur Stimmen geäußert, die ein Interesse an dieser Architektur hatten, ein architektonisches oder wirtschaftliches oder symbolisches Interesse. Auch die Kommentare der Medien waren einhellig positiv, die habe ich in ihrer Bedeutung überschätzt.
Udes Beziehung zu Schorsch Kronawitter
Haben Sie sich damals eigentlich mit Ihrem Vorgänger Schorsch Kronawitter schnell wieder versöhnt?
Da hätten wir uns vorher persönlich entfremden müssen, das war aber nie der Fall. Wir waren in einem einzigen Sachpunkt verschiedener Meinung. Er war schon während seiner Amtszeit gegen das Hochhaus an der Donnersbergerbrücke. Er hat dann aber in seiner unglaublichen Loyalität zum mir als "Wunsch-Nachfolger", wie er immer formulierte, tatsächlich gesagt: "Du wirst mein Nachfolger, setz dich ruhig für das Hochhaus ein, dann hast du einen Beweis deiner Durchsetzungsstärke geliefert." Jahre später ging es für ihn aber nicht um einen Einzelfall, sondern ums Prinzip. Da besuchte er mich im Amtszimmer, einige Wochen vor den ersten Aktivitäten für ein Bürgerbegehren, und sagte: "Da mache ich nicht mehr mit, das halte ich für eine schädliche Entwicklung. Die wenigen Möglichkeiten, die ich als Alt-OB noch habe, muss ich ausnützen. Das soll und darf aber unser persönliches Verhältnis nicht belasten." So war es auch. Obwohl wir in der Sache hart gerungen haben. Ich wusste, dass sich das nicht gegen meine Person richtet, sondern gegen eine einzelne Sachfrage, um die in vielen Städten gestritten wird.
Wo ist denn heute Ihre rote Linie? Immer noch: kein Hochhaus innerhalb des Mittleren Rings?
Eigentlich habe ich nur diese eine rote Linie: Wenn ein Bürgerentscheid nach einer so intensiven Kontroverse unter Beteiligung aller Medien und Bevölkerungsgruppen eine Entscheidung trifft, kann man nicht einfach nach kurzem Zeitablauf sagen: Das ist jetzt unerheblich. Da geht es doch um ein Bild, um einen grundsätzlichen Wunsch von der eigenen Stadt, um ein positives Lebensgefühl oder ein grundsätzliches Unbehagen, was man beides ernstnehmen muss. Ein neuer Bürgerentscheid kann beweisen, dass die Bevölkerung es jetzt anders sieht.
"Man braucht einen neuen Bürgerentscheid"
18 Jahre sind keine kurze Zeit.
Trotzdem war es ein Votum der Bürgerschaft, also der höchsten Autorität, die wir in der kommunalen Demokratie haben. Deswegen braucht man einen neuen Bürgerentscheid, um entweder einer neuen Tatsachenentwicklung oder einem neuen Zeitgeist oder einer neuen Gefühlslage gerecht zu werden. Da kann man nicht einfach sagen: Die Zeit ist abgelaufen.
Häufig kommt das Argument, dass bezahlbarer Wohnraum in Hochhäusern sicher nicht entsteht.
Das ist richtig, das war aber nie ein Argument pro Hochhaus. Es ging nie um eine Lösung des Wohnproblems in der Höhe, sondern darum, dass sich der Büroflächenbedarf nicht in die Stadt hineinfressen soll. Weil er in Hochhäusern befriedigt werden kann. Niemand hat Wohnungen in den Spitzen von Wolkenkratzern versprochen.
Die Schwäche von Bürgerentscheiden
Im konkreten Fall haben kaum mehr als 20 Prozent mitgemacht, nicht mal 51 Prozent haben sich für die eine Seite entschieden: Ist das nicht eher ein Beispiel der Schwäche von Bürgerentscheiden? Sowas schafft doch gar keine hohe Legitimation.
Der Tunnelentscheid war (Luise-Kiesselbach-Tunnel 1996, d. Red.) auch äußerst knapp und hat das Thema trotzdem endgültig befriedet. Weil die eine Seite durchsetzen konnte, dass er gebaut wird und die andere das Ergebnis sofort respektiert hat. Da spielt die Prozentzahl keine Rolle, sonst müssten wir auch bei Parlamentswahlen sagen: Eine schlechte Wahlbeteiligung oder ein knapper Vorsprung reichen nicht! Hat jemals ein Politiker aus so einem Grund den Amtsantritt verweigert? Das wäre doch absurd.
Der CSU-Landtagsabgeordnete Brannekämper sammelt Unterschriften für einen Bürgerentscheid nur zur Paketposthalle. Ist das die bessere oder die schlechtere Idee im Unterschied zu einem grundsätzlichen Hochhaus-Entscheid?
Eine Einzelfallentscheidung ist leichter zu treffen, bringt aber keine Linie und keine Klarheit für die Zukunft. Die beim Bürgerentscheid beschlossene Höhenbegrenzung von 100 Metern hat zwar keine rechtlich bindende Wirkung mehr, ich warne aber davor, den nun einmal korrekt ermittelten Bürgerwillen einfach vom Tisch zu wischen. Das würde nur zur weiteren Entfremdung zwischen unserem Regelwerk und politischen Betrieb einerseits und unzufriedenen Teilen der Bürgerschaft andererseits führen. Dabei macht uns diese Entfremdung doch schon schwer zu schaffen. Wer Angst davor hat, keine Mehrheit für die Aufhebung einer starren 100-Meter-Grenze zu bekommen, kann doch nicht ohne Beteiligung der gesamten Bürgerschaft einfach 140 und 150 Meter hohe Bauten genehmigen, und das noch wesentlich näher an der Altstadt als alle Fälle, die beim Bürgerentscheid damals zur Debatte standen.
Kein absehbarer Ausgang
Gehen wir davon aus, dass es zu einem Bürgerentscheid mit einer ähnlichen Fragestellung wie damals kommt. Ihr Tipp: Wie geht er aus?
Ich denke, dass die Zahl derer, die aus einer konservativen Gefühlslage heraus möglichst wenig Veränderung wollen, eher abnimmt. Dafür sind aber neue Einwände gegen Hochhäuser aus ökologischen Gründen hinzugekommen oder zumindest gewichtiger geworden. Der Ausgang ist nicht absehbar.
Und wenn es nur über Pro oder Contra für die Pläne bei der Paketposthalle geht?
Ein Nein würde dann bedeuten, dass der ganze Streit von vorne losgeht. Die Chance für eine differenzierende Lösung wäre dann vertan. Es gäbe nicht einmal eine Maßgabe, wie ein Kompromiss aussehen könnte. Ein Ja würde den alten Bürgerentscheid zwar durch die Bürgerschaft selbst vom Tisch wischen, aber jede Regulierung in der Hochhausfrage verweigern und jeden künftigen Einzelfall wieder zur Kraftprobe der gegnerischen Lager machen. Da ich in der Hochhausfrage schon einmal bei den Unterlegenen war, möchte ich jetzt nicht den Oberschlauen spielen. Aber wir sollten schon versuchen, 2022 weiter zu sein als 2004.
Die SPD ist ein "gebranntes Kind"
Grüne und Schwarze sind offen für ein Ratsbegehren, darauf könnte es rauslaufen. Warum tut sich ausgerechnet Ihre SPD so schwer damit?
Sie ist ein gebranntes Kind. Damals war die SPD auf beiden Seiten stark vertreten. Bei den Verlierern mit mir als OB, der Stadtratsfraktion und der Beschlusslage der Partei, auf der Seite der Gewinner mit dem damaligen Alt-OB und prominenten Mitgliedern, die durchaus eine beachtliche Opposition repräsentierten. Das macht keine Vorfreude auf den nächsten Urnengang. Die Chance, mit einem differenzierten Stadtratsbeschluss, der auch Sichtbeziehungen sowie Entfernungen zur Altstadt wie auch ökologische Belange einbezieht, ein Ratsbegehren einzuleiten, sollte genutzt werden.
Und wie würden Sie persönlich zu den Plänen an der Paketposthalle abstimmen?
Nein sagen wäre mir zu wenig. Mich interessiert die Frage: Was dann? Dafür braucht man mehrheitsfähige Lösungen, die den Münchner Hochhausstreit zusammenfassen und nicht noch einmal zuspitzen.
