Als das zerstörte München endlich vom Krieg befreit wurde

München - Die ersten Amerikaner meines Lebens – abgesehen von einem runden Zuckergebäck namens "Amerikaner" – bekam ich am Nachmittag des 30. April 1945 zu Gesicht: drei Männer im Jeep. Vorsichtig fuhr der Spähtrupp zur Maximiliansbrücke und hielt mitten in einer Menschenmenge. Die bestand aus neugierigen, kriegsmüden, meist älteren Bürgern sowie etlichen Deserteuren der Wehrmacht.
Einige Leute hatten kurz zuvor die von immer noch pflichttreuen Kameraden bereitgelegten Stacheldrahtrollen und mit Sprengstoff beladenen Kisten in die Isar geworfen. Sabotage, Defätismus, Verrat – jetzt war’s schon egal.
Der Wagen machte kehrt – Panzer donnerten durch die Straße
In schlechtem Schulenglisch erklärten wir den behelmten, olivgrün uniformierten Soldaten, dass sich Waffen-SS drüben im Maximilianeum hinter der Rotkreuzflagge verschanzt habe. Der kleine, offene Wagen machte kehrt – und bald schon donnerten schwere Sherman-Panzer durch die Maximilianstraße. Der Krieg war aus für die Stadt, der noch am 25. Februar amerikanische Kampfflugzeuge in fünf Wellen mit über 5.000 Spreng- und 250.000 Stabbrandbomben einen letzten zerstörenden Schlag versetzt hatten. München war besetzt von den so lange verteufelten Feinden.

Von drei Seiten her – vom Westen, Norden und Osten – waren Einheiten der 6. und der 7. US-Armee eingerückt in Hitlers "Hauptstadt der Bewegung". Nur im Süden blieb ein Schlupfloch, das prominente Nazi- und Heerführer zur Flucht in die "Alpenfestung" nutzten.
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Unter ihnen der Münchner NS-Oberbürgermeister Karl Fiehler, der aber den Alliierten bald in die Hände fiel und später zu Arbeitslager und Berufsverbot verurteilt wurde, sowie der Gauleiter Paul Giesler, der noch die Sprengung der Isarbrücken befohlen hatte und dann mit voll bepackten Autos nach Berchtesgaden raste, wo er sich eine Kugel in den Kopf jagte. Ein Kommando aus drei Offizieren und fünf Unteroffizieren war für den Vorstoß von Westen ausersehen. Der Stoßtrupp sollte Verbindung aufnehmen mit Angehörigen der "Freiheitsaktion Bayern" (FAB) des Hauptmanns Rupprecht Gerngroß und seiner Dolmetscherkompanie, die dem Standgericht im Hof von Gieslers Machtzentrum in der Ludwigstraße entkommen waren.
Die Amerikaner hatten einen Drucker für Flugblätter dabei, aber die Munition für den Karabiner hatten sie in der Eile des Aufbruchs vergessen. 40 Jahre später berichtete Ernst Langendorf von der Abteilung für psychologische Kriegsführung, die für Aufklärung und Propaganda im eroberten Gebiet zuständig war: "Wir versuchten, die Autobahn zu benutzen, mussten aber wegen zahlreicher gesprengter Brücken und anderer Hindernisse oft auf von Truppentransporten verstopften Nebenstraßen vorwärtskriechen. Nach zehnstündiger Fahrt erreichten die beiden Fahrzeuge die Hauptkampflinie in Pasing. Wir fuhren weiter, ohne zu fragen, bis wir merkten, dass wir die ersten Amerikaner im Stadtbereich waren ... Auf dem Domplatz standen 30 uniformierte, unbewaffnete Polizisten mit erhobenen Händen. Ihr Anführer meldete, dass sich das Polizeipräsidium ergebe, die Waffen seien eingesammelt."
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Weiter zum menschenleeren Marienplatz, der sich gespenstischerweise in wenigen Minuten füllte. Langendorf, der Schwäbisch sprach und sich in München auskannte: "Interessiert betrachteten die Menschen unsere Fahrzeuge, andere betasteten den Stoff unserer Uniformen und lobten seine Qualität. Mädchen fielen uns um den Hals und das Verbrüderungsverbot wurde gründlich übertreten. Unsere Wagen wurden mit Osterprimeln und Forsythien geschmückt. Es herrschte eine recht fröhliche Stimmung."

"Ich war endgültig befreit – und radelte durch München"
Nach einer halben Stunde habe sich mit "großem Gerassel" ein Panzerspähwagen der 45. Infanteriedivision genähert, eine Vorhut jener Einheit, die offiziell das Rathaus besetzen und die Übergabe der Stadt vollziehen sollte. "Sie betrachteten uns feindseliger und misstrauischer als die Bevölkerung, die sich eben hatte erobern lassen", berichtete Langendorf. Der Ex-Offizier ging als "Münchens erster Besatzer" in die Stadtgeschichte ein und hatte am Aufbau einer demokratischen Presse sowie des Internationalen Presseclubs maßgeblichen Anteil.
Offiziell wurde die Stadt den Amerikanern von einem zufällig anwesenden Oberrechtsrat übergeben – die Rathausuhr stand auf 16.05 Uhr. Knapp eine halbe Stunde zuvor hatten sich Adolf Hitler und die frisch angetraute Eva Braun in Berliner Führerbunker das Leben genommen. Karl Wieninger, Inhaber einer Porzellanfabrik, hatte in Flugblättern an bayerische Bürgermeister zum Widerstand aufgerufen und am 28. April, seinem 40. Geburtstag, als Aktivist der Freiheitsaktion Bayern zusammen mit Gesinnungsgenossen die Nazi-Bonzen seines Wohnviertels Sendling entwaffnet. Über die eigentliche Befreiung berichtete Wieninger, der bald schon bei der "Entnazifizierung" und bei der Gründung Münchner CSU maßgeblich beteiligt sein sollte.
Am dritten Tag nach der Erhebung der FAB rückten die ersten amerikanischen Truppen in München ein. In meinem Versteck in der Baumstraße hörte ich plötzlich das laute Dröhnen und Kettenrasseln der riesigen Panzer. Die Fenster zitterten. Dann sah ich endlose Kolonnen von Tanks, Lastwagen, Rote-Kreuz-Fahrzeugen und Jeeps. Ich war endgültig befreit und radelte durch die Stadt. Am Baldeplatz beobachtete ich, wie sich die schweren Kettenfahrzeuge in einer Reihe aufstellten und ihre Kanonenrohre drohend über die Isar nach Giesing richteten. Nachdem sie einen Schuss abgefeuert hatten, setzte sich der Kriegstross über die Isarbrücke in Bewegung.
Auch nach der Befreiung gab es noch Widerstand
Ich kehrte in meine Wohnung in Sendling zurück. Die Schergen Hitlers waren entmachtet. Anders verlief der Einmarsch im Norden Münchens, wo die NS-Regierung nach Zerstörung der Waffenschmiede an der Ruhr die Rüstungsindustrie konzentriert hatte. Nach nächtlichem Artilleriefeuer begann die Speerspitze der Task Force 20 um 7 Uhr an jenem 30. April den Angriff auf der Panzerwiese (heute Naturschutzgebiet). Mindestens 2.000 Angehörige der Waffen-SS sowie ein letztes Aufgebot halbwüchsiger Flakhelfer und älterer Männer vom "Volkssturm" waren zur Verteidigung zusammengezogen. Sie alle erwartete ein Blutbad.
Zunächst wurden mehrere Panzer der Amerikaner zerstört. Flugunterstützung wurde den Einheiten wegen Neuschnees und Nebels verweigert. Erst gegen 9.30 Uhr kamen Infanteristen der Rainbow Division, einer Elite-Einheit, vom Flugplatz Schleißheim her zu Hilfe. Planierraupen walzten die Schützengräben einfach zu, wobei zahlreiche deutsche Verteidiger verschüttet wurden. In den nahen Kasernen wurde noch bis 15 Uhr weitergekämpft, Mann gegen Mann. Widerstand leistete die SS auch noch in Feldmoching, Freimann, Lohhof und Schleißheim. In Planegg lieferten sich fanatische SS-Männer noch nach der Besetzung einen heftigen Kampf.
"Waggons voller Skelette und Leichen" im KZ Dachau
Die Regenbogen-Kämpfer waren aus Dachau gekommen, wo sie mehr als 32.000 Überlebende des Konzentrationslagers befreit hatten. Ihnen folgte Lee Miller, eine der wenigen akkreditierten Kriegskorrespondentinnen. Sie stieß in den KZ-Anlagen zuerst auf "Waggons voller Skelette und Leichen", auf verlassene Hundezwinger, eine Zuchtfarm für Angorakaninchen, einen Leichenhaufen von SS-Leuten in gefleckten Tarnanzügen und schließlich auf noch voll belegte Häftlingsbaracken.
In ihrer aufwühlenden Reportage heißt es weiter: "In den dreistöckigen Betten lagen zwei oder drei Männer jeweils auf einer Schlafstelle – ohne Decke, nicht einmal Stroh gab es – und waren zu schwach, um aufzustehen und den Sieg zu feiern... Die Leichen wurden umstandslos herausgezerrt und draußen vor dem Block auf einen Haufen geworfen."
In die Befehlsstelle des Gauleiters zog der Geheimdienst ein
Im Osten Münchens rückte schon um 2 Uhr früh – ebenfalls kampflos – ein Stoßtrupp von etwa 100 Mann über Oberföhring und die Ismaninger Straße in Haidhausen ein. In Hitlers Privatwohnung am Prinzregentenplatz 16 wurde ein Gefechtsstand errichtet. Befehlsgemäß war diese Einheit abgeschwenkt von der in Richtung "Alpenfestung" operierenden 6. Armeegruppe des superharten Generals George Patton, welcher noch Nachhut-Kämpfe zwischen Passau und Berchtesgaden bevorstanden.
Foto-Schätze: Seltene Aufnahmen aus München kurz nach dem Krieg
Der restliche Tag der Befreiung und die nächsten Tage bestanden für die Sieger darin, Quartier zu machen, überwiegend in öffentlichen Gebäuden. Die kaum beschädigte Befehlsstelle des Gauleiters in der Ludwigstraße (heute Landwirtschaftsministerium) wurde Hauptquartier des Militärgouverneurs, der Militärpolizei und des Geheimdienstes CIC. Dieser verfügte über Stadtpläne und Namenslisten. So konnten zahlreiche Privatwohnungen von mehr oder weniger belasteten NS-Parteigenossen schnell und rigoros beschlagnahmt werden.
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