"Alles eskalierte": Vor 60 Jahren erschüttern die Schwabinger Krawalle die Stadt

München - Der Sommer kam mit drückender Hitze; sie lag noch bei Dämmerung und Dunkelheit über der Stadt, die sich kurz zuvor offiziell den Werbekosenamen "Weltstadt mit Herz" zugelegt hatte. Schwabing, das Amüsierviertel, war mit Menschen gefüllt in jener Nacht zum 21. Juni 1962. Auf dem kleinen Platz, der nach dem rebellischen Dichter Frank Wedekind benannt ist, spielten fünf Gitarristen; junge Leute standen herum und freuten sich. Aber einer der Anwohner rief bei der Polizei an und beschwerte sich über Ruhestörung. Die Funkstreife fuhr vor.
Drei Musikanten wurden in den Wagen gezerrt, unter dem Gejohle der Menge und unter Einsatz von Gummiknüppeln. "Die Menschen konnten es einfach nicht einsehen, warum wir jetzt weg müssen," erinnert sich Wolfram Kunkel, einer der drei festgenommenen Musikanten.
Umstehende schaukelten das Polizeifahrzeug ein bisschen und versuchten, die Türen aufzumachen. "Die Bullen haben natürlich Schiss gekriegt und Verstärkung gerufen. Irgendwer hat dann die Funkantenne abgebrochen."
Krawalle mit Knüppeln und Flaschen: "Jeder Polizist hat zugehauen"
So begannen, buchstäblich aus heiterem Himmel, die sogenannten "Schwabinger Krawalle": der erste große Jugendprotest in der Bundesrepublik mit tiefgreifenden Folgen. Ganz so heiter war der weiß-blaue Himmel aber bereits nicht mehr. Schon Anfang Juni 1962 war es bei einem Jazzkonzert in der Uni zu Rempeleien mit der Polizei gekommen, weil die Musiker im Freien weiterspielen wollten.
Dies war nur ein Vorspiel der wilden Schwabinger Nächte, die wieder nur das Präludium für die große Protestbewegung der späten 1960er-Jahre waren. Die Ereignisse von Sommerbeginn liefen ab wie eine unkontrollierte Kettenreaktion. Am Tag nach den Geschehen am Wedekindbrunnen – das fromme München erlebte Fronleichnam, Zeitungen erschienen nicht – verbreiteten sich Gerüchte über den Vorfall.

Bald tanzten und sangen einige hundert junge, aber auch nicht mehr ganz so junge Leute auf dem breiten, sogenannten "Boulevard Leopold" zum Open-Air-Konzert von Gitarrenspielern. Wieder beschwerte sich ein Bürger über den Lärm. Nun waren es schon zwei Funkstreifen, die zum Tatort eilten, einem wurden die Reifen durchstochen. Großalarm. Jetzt heulten Sirenen, jetzt blitzten Blaulichter.
Weitere Polizeiwagen brausten durch Schwabing, das Überfallkommando schwärmte aus, Zeiserlwagen wurden bereitgestellt, Knüppel geschwungen, Gläser und Flaschen geworfen (wenn auch noch keine Molotow-Cocktails wie sechs Jahre später). Rufe wie "Gestapo" und "Polizeistaat" hallten. Der Verkehr wurde völlig lahmgelegt.
Es brach Panik aus, verursacht durch die polizeiliche Taktik. Krawall-Kumpel Kunkel erinnert sich: "Dann kamen Reiterstaffeln, die sind sogar ins Café Schwabinger Nest reingeritten. Die Leute sind in Kneipen geflüchtet, aber die Bullen sind auch da reingekommen und haben jedem, der hinten rauskam, eins mit dem Knüppel übergezogen. Jeder Polizist hat mal zugehauen, wirklich jeder."
München: Strafverfahren gegen 239 Zivilpersonen und 131 Polizisten
So ging es weiter, fünf heiße Nächte lang. Die Einsätze der damals noch kommunalen Polizei, die Empörung und der Widerstand einer von weither zusammenlaufenden Menge – alles eskalierte. Da flogen nun auch Pflastersteine und Stinkbomben. Wahllos wurde auf völlig Unbeteiligte eingeprügelt, beispielsweise auf den Direktor des Stadtjugendamtes. Bis zu 30 Polizeiwagen waren gleichzeitig im Einsatz. Die genaue Zahl der Verletzten auf beiden Seiten und der vorläufigen Festnahmen wurde offiziell nie bekannt.

OB Vogel ruft Krisensitzung kommunaler Gremien ein
Berittene Beamte benutzten die Leopoldstraße wie Cowboys eine Prärie voller Rinderherden. Die Volksseele kochte. Die Obrigkeit sah sich in die Enge gedrängt und bloßgestellt durch die in der ganzen Republik kolportierten "Polizeispiele". Am Sonntag rief Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD), erst 36 Jahre alt und seit zwei Jahren im Amt, eine Krisensitzung kommunaler Gremien ein, die das bisherige Vorgehen der Polizei billigten und einem Aufruf an alle Bürger zustimmten, sich von den Unruhestiftern zu distanzieren. Die Stürme verebbten erst am übernächsten Abend, als der Regen kam.
Dann kam die große Abrechnung. Monatelang glich das Amtsgericht einem Revolutionstribunal. Strafverfahren liefen gegen 239 Zivilpersonen und gegen 131 Polizeibeamte, von denen aber die meisten eingestellt wurden. Ebenso wie die Ermittlungsverfahren gegen Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel und die polizeilichen Einsatzleiter wegen Beleidigung und Begünstigung im Amt.
Verhältnis der Münchner zur Polizei schwer erschüttert
Die Prozessserie, genannt "Schwabinger Spätlese", endete nach einem Jahr mit insgesamt 2.918 Tagen Haft für Bürger ohne und 372 Tagen für Bürger in Uniform. Ein Verfahren über die Rechtmäßigkeit der Polizeieinsätze ging gar erst im Juni 1971 zu Ende; das Bundesverwaltungsgericht in Berlin gab der Stadt München recht. Bis in den Herbst hinein hagelte es Kritik und Vorwürfe gegen Stadtverwaltung und Polizei. Die Gummiknüppel hatten offenbar mehr unbeteiligte Passanten getroffen als wirkliche Randalierer. Einige der Getroffenen, darunter der Stadtjugendamt-Direktor Seelmann, lagen wochenlang krank zu Bett.
"Leute, die abhauen, schlägt man nicht mit Knüppeln", entrüstete sich sogar der Präsident der Bayerischen Bereitschaftspolizei, Josef Remold, der aus der Weimarer Zeit einige Erfahrungen im Niederschlagen von Unruhen hatte. Schwer schien das Verhältnis zwischen Bürgerschaft und Polizei zerrüttet. Mühsam wurde es von Grund her neu aufgebaut.
Schon im März 1963 begann die noch städtische Polizei umzurüsten. Die Strategen der öffentlichen Sicherheit schafften auch einen zweiten Wasserwerfer an, der nicht mehr, wie in Schwabing, wegen der Straßenbahnoberleitung und fehlender Hydranten außer Gefecht zu setzen war. Und sie ließen automatische Kameras und Tonbandgeräte auf die Polizeiwagen montieren, um "Störer" besser in den Griff zu bekommen. Der forsche Polizeipräsident Anton Heigl wurde durch den erst 37 Jahre alten Kripochef Manfred Schreiber ersetzt. Schreiber leitete eine durchgreifende Reform ein, baute den ersten polizei-psychologischen Dienst auf.
Und politisch? Sehen es heute viele, wie es Alt-OB Hans-Jochen Vogel mal erklärt hat: die Schwabinger Krawalle als Vorboten der späteren Studentenunruhen.
Historisches München: Das "alte" Schwabing
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