35 Millionen Euro für Missbrauch-Opfer in München: "Verantwortung übernehmen"
München – Die Stadt stellt sich ihrer Verantwortung. Das betont Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) in der Feriensenatssitzung des Stadtrats am Mittwoch. Betroffene, die in der Nachkriegszeit in städtischen Kinderheimen oder in Pflegefamilien Gewalt erlebt haben, sollen nun eine Form von Gerechtigkeit erfahren.
Historiker Felix Berth beschrieb im AZ-Gespräch im Juli 2023 etwa Missstände in Säuglingsheimen wie gewaltsames Füttern: "Die Mitarbeiterinnen in den Heimen legten vor allem Wert darauf, dass bei den Kindern die Gewichtskurve steigt. Die Frauen haben oft zwei Kindern gleichzeitig mit Wahnsinnstempo das Essen reingeschoben, ihnen manchmal dabei die Nase zugehalten. Das ist Gewalt", sagte Berth der AZ.
Es ist die Pflicht der Stadt, eine gründliche Aufarbeitung durchzuführen
"Aus historischer Perspektive besteht eine Verantwortung der Landeshauptstadt München", so argumentiert das Sozialreferat. Es sei die Pflicht der Stadt gegenüber den Betroffenen, Verantwortung zu übernehmen, eine gründliche Aufarbeitung durchzuführen und die Möglichkeit der Beantragung von Soforthilfen und Anerkennungsleistungen zu ermöglichen.
Den Betroffenen soll vor Politik, Institutionen und der Stadtgesellschaft das ihnen zustehende Gehör verschafft werden – und die Missstände sollen in aller Deutlichkeit und Öffentlichkeit anerkannt werden.
Nun stellt die Stadt 35 Millionen Euro als Anerkennungsleistungen für Betroffene zur Verfügung, das hat der zuständige Stadtratsausschuss am Mittwoch einstimmig beschlossen. Eine Expertenkommission arbeitet seit 2021 an der Aufarbeitung der Geschehnisse, sie rechnet mit rund 250 Anträgen. Ein Prüfungsgremium aus einem Juristen, einem Historiker und Psychotherapeuten bearbeitet die Anträge.
Bislang haben laut Sozialreferat 165 Menschen Anträge auf Anerkennungsleistungen gestellt. In 157 Fällen haben die Antragsteller auch Soforthilfen beantragt, davon werden 20 im Moment noch bearbeitet, vier wurden abgelehnt. Den übrigen Antragstellern wurden Soforthilfen zwischen 5000 und 40.000 Euro zugesagt.
Eine Form der späten Gerechtigkeit werde hergestellt
"Man kann nichts wiedergutmachen, aber die Stadt übernimmt die Verantwortung", sagt SPD-Fraktionsvorsitzende Anne Hübner (SPD) am Mittwoch. Das geschehe zwar sehr spät, aber so werde eine Form der späten Gerechtigkeit hergestellt.
Stadtrat Leo Agerer (CSU) weist darauf hin, dass die Finanzierung in der aktuellen Haushaltssituation nicht leicht zu bewältigen sei, man sich aber freue, einen späten Ausgleich schaffen zu können.
Laut der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, ist die Entscheidung der bayerischen Landeshauptstadt deutschlandweit einmalig. "Zum ersten Mal erkennt eine Kommune das Leid Betroffener durch Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung in Heimerziehung, Pflege- und Adoptivfamilien an und stellt zudem einen stattlichen Betrag für Hilfe bereit", sagte sie. "Diesem Beispiel sollten andere Kommunen folgen und ebenfalls Verantwortung übernehmen."
Durch die desolate Haushaltslage falle die Finanzierung nicht leicht
Nach dem Stadtratsbeschluss zeigt sich auch OB Dieter Reiter zufrieden. Zunächst verweist er zwar auf die schwierige Haushaltslage – der Stadt fehlen im laufenden Jahr 2024 mehr als 180 Millionen Euro – und räumt ein, dass die Finanzierung aktuell nicht leicht falle. "Das zeigt, dass wir uns der Verantwortung stellen", sagt er.
Die Stadt werde nicht nur Geld zur Verfügung stellen, sondern auch den Prozess der Aufarbeitung fortsetzen. "Das tun wir aus Überzeugung gemeinsam", sagt er und bedankt sich bei den anwesenden Stadträten.
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