102-jährige Münchnerin: "Altwerden ist nur was für Helden"
München - "Haben Sie etwa noch nie eine E-Mail von einer 102-jährigen Frau bekommen?", fragt Maria Heitmann. Lachfalten zieren ihr Gesicht. Sie trägt ein lilafarbenes Kleid mit Blumenmuster und eine farblich abgestimmte Strickjacke darüber. Eine Perlenkette baumelt an ihrem Hals. Auf ihrem Schreibtisch im Wohnzimmer ihrer Laimer Wohnung steht ein großer Computer, auf dem sie täglich recherchiert, Patiencen legt und Canasta spielt, erzählt sie. Auch Nachrichten verschickt sie dort, etwa an die AZ. Der Betreff: Kindheit 1920er bis 1930er Jahre.
Oktober 1919: Hausgeburt in der Baaderstraße
Maria Heitmann, Kreuzworträtselliebhaberin, Bücherwurm, Zahlenjongleurin und Münchner Kindl, ist am 14. Oktober 1919 in der Baaderstraße zur Welt gekommen. Ihr Mädchenname: Haas. "Es war eine Hausgeburt, vor 100 Jahren ist man noch nicht ins Krankenhaus gefahren. Man hatte nur die Hebamme", erklärt sie. Ihre Mutter arbeitete tagsüber in der Wirtschaft ihrer Schwester in der Ludwigsvorstadt. Ihr Vater war als Desinfektor tätig. "Das war ein lukrativer Job damals, denn nach dem Ersten Weltkrieg war alles verlaust und verwanzt."
Das Leben war einfach und nicht besonders aufregend, sagt sie. "Aber es war ein schönes Leben." Heitmann und ihr sechs Jahre älterer Bruder Alois hatten immer etwas zu essen und ein Bett. "Wir waren nicht arm, aber auch nicht reich." Heitmann schmunzelt, wenn sie an ihre Eltern zurückdenkt: "Ich war Papas Liebling, als er aus dem Krieg zurückkam, denn damals war mein Bruder schon ein Lausbub."

"Man sollte immer neugierig und auch ein bisserl dankbar sein"
Heitmann verschlingt Bücher, am liebsten auf ihrer Chaiselongue, witzelt sie über ihre Couch. Jede Woche liest sie eins, zuletzt die Biografie von Barack Obama. "Der erste schwarze Präsident - das war eine Sensation! Was für ein Mann!" Ihr Motto: "Immer neugierig und ein bisserl dankbar sein." Dankbar ist sie etwa für ihren "geistigen Ernährer" und Freund Robert. "Den kann ich alles fragen." Eine andere Freundin komme oft zum Würfeln. Besonders wichtig sei ihr ihre "Schwiegerfreundin" Sonja Zaun, die ehemalige Lebensgefährtin ihres verstorbenen Sohnes.
Heitmann und ihre Schwiegerfreundin sitzen am hölzernen Wohnzimmertisch, als die 102-Jährige der AZ die Bilder aus ihrer Kindheit zeigt. Mit drei Jahren ging sie in den Kindergarten des Herz-Jesu-Klosters, der von Nonnen betrieben wurde. "Wir mussten folgen. Wenn eine Nonne zu den 30 Kindern sagte ‚hinsetzen', haben wir das sofort gemacht."
Bis heute strickt sie leidenschaftlich
Mittags ging's heim zum Spielen: auf dem Hof und mit den Puppen. Oder aber Annie und Otto, die im selben Haus wohnten, kamen zu Besuch. "Als ich und mein Bruder größer waren, hat uns die Mama bei schönem Wetter mitgenommen. Dann sind wir zur Isarwiesen gelaufen - das war was!"
Zur Schule ging Heitmann in der Wittelsbacherstraße. Zu dieser Zeit besuchte sie auch eine Kochschule. In Wirtschaften sei sie nur selten gegangen. "Man musste ja sparen und war einfach froh, dass der Papa lebend aus dem Krieg zurückgekommen ist."

Weil ihre Nachbarin in der Baaderstraße Schneiderin war, sei sie als junges Mädchen immer schön angezogen gewesen. Auch heute ist Heitmann eine Freundin der Handarbeit geblieben. Sie ist eine wahre Strickkünstlerin - mit Humor. Weil die Farbe ihres Toasters zum Beispiel nicht zur restlichen Küchenausstattung in ihrer Laimer Wohnung passte, hat sie ihn mit einem grünen Woll-Umhang versehen. "Schee, oder?" Auch den roten Wandteppich, der an den gotischen Kalender angelehnt ist, hat sie selbst gemacht.
Mit 18 Jahren lernte sie ihren späteren Ehemann kennen
Heitmann sei nicht mehr so mobil, erklärt sie und zeigt auf ihren Rollator. "Aber dafür werde ich jetzt gebadet wie Kleopatra, weil ich seit einem Jahr einen Pflegedienst habe", erzählt sie und lacht. Daten und Zahlen hat sie genau im Kopf. Zaun nennt ihre wissbegierige Freundin eine "Rechenmaschine". Mit 14 Jahren ging Heitmann in die Lehre in einem zahntechnischen Labor, wo sie mit 18 Jahren ihren künftigen Mann Wilhelm kennenlernte.
An einen Tag erinnert sie sich genau: "Am 13. Mai 1938 hat mich mein Willy das erste Mal eingeladen", die Hochzeit fand ein Jahr später, am 27. Juni 1939, statt. "Das war der schönste Tag meines Lebens, als ich Frau Heitmann geworden bin." Auf Hochzeitsreise ging es mit dem Zug am Rhein entlang nach Westfalen. "Dort wurden wir von meinem Schwiegervater mit Kutsche und Pferden abgeholt und dann sind wir hinauf auf den Drachenfels geritten."

Das Bildnis ihres Mannes thront an der Wand über dem Lesesofa. Fotos ihrer zwei Söhne hängen daneben. "Ich habe meinen Willy so sehr geliebt, ich habe ihn angebetet", sagt sie. "Leider durfte ich ihn nicht lange haben." Nach Rückkehr von ihrer Reise wurde ihr Mann unter dem Vorwand einer dreiwöchigen Übung als Soldat eingezogen. "Das war am 8. August 1939 - und aus den Wochen wurden sechs Jahre."
Heitmann kämpfte sich durch die Zeit: Während des Zweiten Weltkrieges kümmerte sie sich um ihre Söhne Horst und Dieter. "Jede zweite Nacht mussten wir wegen des Bombenalarms in den Keller." Das Essen wurde rationiert. Ihre Eltern stellten sich stundenlang für Gemüse an, erzählt sie. Zum Glück wohnten diese im selben Haus. Und zum Glück stand das Haus noch. Mit vier Jahren starb Sohn Horst an Diphtherie. "Die Ärzte waren ja alle an der Front", erzählt sie. "Es waren furchtbare Zeiten!"
1968 starb Wilhelm Heitmann durch einen Stromschlag
Nach Ende des Krieges 1945 baute sich das Ehepaar ein zunächst bescheidenes, neues Leben auf. Mit einer eigenen Zahnarztpraxis und "Zangen aus dem Keller" begann es. Später zogen sie in ein Haus nach Deisenhofen. Das Hobby ihres Mannes war "Federvieh", erzählt Heitmann grinsend. "Wir hatten einen Tierpark mit 300 Tieren, darunter Fasane, Störche, Pfauen und einer Familie Damhirsche."

Wilhelm Heitmann, Westfale, Zahnarzt, Tierliebhaber und Soldat im Zweiten Weltkrieg, verunglückte am 11. Mai 1968 tödlich an einem Stromschlag. "Ich habe alles verkaufen müssen." Maria Heitmann verlor mit dem Tod ihres Mannes ihr Zuhause und die Praxis. "Drei Jahre lang konnte ich nicht mehr." Sie arbeitet später im Studio für Film und Fernsehen, damals kam auch "die Sache mit dem Computer auf", so die technikaffine 102-Jährige.
Bis vor Kurzem ist die 102-Jährige noch mit einem Cabrio gefahren
Jahrzehnte danach starb ihr zweiter Sohn Dieter mit 53 Jahren an Krebs. "Das waren drei Hiebe in meinem Leben, aber wie Sie sehen, bin ich trotzdem alt geworden", sagt sie. Das Zitat des Schauspielers Joachim Fuchsberger "Altwerden ist nichts für Feiglinge" dichtet sie kurzerhand um: "Ich sag's Ihnen, Altwerden ist nur was für Helden." Einsam sei die Heitmann nicht, sie habe ja schließlich ihre Freunde.
Bis vor ein paar Jahren ist die lebensfrohe 102-Jährige noch mit einem Zweisitzer-Cabrio durch die Stadt gefahren. Sie zehrt von den Erinnerungen an ihre Reisen - nach Russland ("da gab's den Putin noch nicht"), Hawaii, Jamaika oder Griechenland. Auch die Erinnerungen an ihren Willy machen sie glücklich. Den Tieren in ihrem Garten hat sie Namen gegeben. Inzwischen achte sie eben mehr auf die kleinen Dinge im Leben, die bereichern. Und Heitmann lacht viel, zum Beispiel dann, wenn die AZ vor ihrer Tür steht.