Neue Regeln: Wer darf wann früher in Rente?

Die Vorhaben der großen Koalition erschüttern das Rentensystem. Wie viele früher in den Ruhestand gehen dürfen und nach welchen Regeln, ist immer noch unklar
Berlin - Deutschland schaute am 20. November 2013 gebannt nach Berlin: Schafft es Schwarz-Rot wirklich, einen Koalitionsvertrag zu präsentieren? Ausgerechnet an diesem Tag wurde in der Hauptstadt noch ein Druckwerk veröffentlicht, das wohl mehr über die politischen Perspektiven unseres Landes aussagt als der Vertrag mit dem Titel „Deutschlands Zukunft gestalten“: der Rentenversicherungsbericht aus dem Haus von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU).
Auf 101 Seiten macht hier die Rentenversicherung „Inventur“: Wer bekommt wie viel Rente in Deutschland? Wie lange musste man dafür arbeiten? Und wie zahlen wir in 15 Jahren den Versicherten die fällige Rente?
Die Daten sind gerade jetzt auch deswegen so interessant, weil Schwarz-Rot die „Rente mit 63“ für langjährig Versicherte plant – und viele sich fragen, wer überhaupt die nötigen Beitragszeiten zusammenbringt. Genaue Zahlen, wie viele Arbeiter und Angestellte davon profitieren, gibt es zwar nicht. Denn im Rentenbericht 2013 werden die Rentner lediglich nach Versicherungsjahren unterteilt – Versicherungsjahre umfassen aber mehr und andere Zeiten als die Beitragsjahre (siehe unten).
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Trotzdem geben diese Daten Anhaltspunkte: So kommen mehr als 40 Prozent der westdeutschen Männer auf 45 bis 49 Versicherungsjahre, 2,6 Prozent auf mehr als 50 – sie alle könnten also von der Reform profitieren. Von den Frauen schaffen aktuell nur etwa 5Prozent mehr als 45 Versicherungsjahre (s. Grafiken oben).
Aber: Bei der geplanten „Rente mit 63“ gibt es noch allerlei Unwägbarkeiten. Erstens die Frage: Welche Jahre zählen mit? Merkel, Gabriel und Seehofer haben festgelegt, dass „langjährig Versicherte“ mit „45 Beitragsjahren (einschließlich Zeiten der Arbeitslosigkeit) ab dem 1. Juli 2014 mit dem vollendeten 63. Lebensjahr abschlagsfrei in Rente gehen können“. Bisher war das nach 45 Beitragsjahren erst mit 65 Jahren möglich – Arbeitslosigkeit wurde hier nicht mitgezählt, Erziehungszeiten aber berücksichtigt.
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Das ändern sich jetzt – wie genau, wird man erst im Gesetzgebungsverfahren wissen, das voraussichtlich am 19. Dezember beginnt. Da gibt es noch einiges zu tun: Viele Fragen, wann wer genau und wie viele diese neue Rente beziehen können, sind noch ungeklärt.
Die SPD wollte die Rente mit 63 im Koalitionspoker ursprünglich nach 45 Versicherungsjahren durchboxen – die Union setzte sich mit der Bemessung nach Beitragsjahren durch. Dafür wurde aber dann die Anrechnung der Arbeitslosen-Zeiten hineingenommen, die bisher nicht bei den Beitragsjahren mitgezählt werden durften. Angeblich sollen bis zu fünf Jahre ohne Job keine negativen Konsequenzen auf den Renten-Eintritt haben – wenn auch wohl nicht am Stück.
Die Frage, welche Jahre künftig mitgezählt werden, ist die eine Unwägbarkeit. Die zweite große Frage, die Renten-Experten Kopfzerbrechen bereitet, ist die nach dem Stichtag: Wer darf wann in welchem Alter ab dem festgelegten 1.Juli 2014 in den Ruhestand gehen? „Das Zugangsalter wird schrittweise parallel zur Anhebung des allgemeinen Renteneintrittsalters auf das vollendete 65. Lebensjahr angehoben“, heißt es hierzu im Koalitionsvertrag.
Die für viele Arbeiter und Angestellte wichtige Frage: Was meinen Merkel, Gabriel und Seehofer eigentlich mit der Formulierung „schrittweise parallel zur Anhebung des Rentenalters“?
Die erste Möglichkeit: Die Regelungen der Rente mit 67 werden übernommen. Also: Nächstes Jahr können die ersten mit 63 und ein paar Monaten in den Ruhestand gehen, im Jahr drauf der nächste Jahrgang mit 63 und noch ein paar mehr Monaten.
Konkret: Bei der Einführung der Rente mit 67 wurde nach Geburtsjahr differenziert und danach das Renteneintrittsalter berechnet: Wer 1949 geboren ist, dürfte nach der bisher gültigen Regel erst mit 65 Jahren und 3 Monaten in Rente, der Jahrgang 1951 mit 65 Jahren und 5 Monaten. Das Renteneintrittsalter steigt weiter kontinuierlich an, bis es für die Jahrgänge 1964 und jünger 67 erreicht hat.
Wenn diese Regelung „schrittweise parallel“ für die „Rente mit 63“ übernommen wird, hieße das (entgegen der Aussage im Koalitionsvertrag): Zum 1. Juli 2014 kann niemand mit 63 Jahren in Rente gehen. Weil derjenige – entsprechend den Regelungen für den Jahrgang 1951 – fünf Monate länger als bis zum 1.Juli 2014 arbeiten müsste.
Die zweite Möglichkeit: Die bisher geltende „Rente mit 65“ für „besonders langjährig Versicherte“ wird durch die neue „Rente mit 63“ ersetzt – das heißt: keine Abzüge, keine Monate obendrauf, der erste Deutsche könnte am 1.Juli 2014 zu seinem 63. Geburtstag in Rente gehen.
Es wird also quasi per Gesetz ein neuer Stichtag festgelegt, dass die ersten mit 63 und null Monaten gehen dürfen. Dann müsste aber das ganze Werk für die kommenden Jahrgänge extra berechnet werden. Klingt kompliziert, ist es auch.
Klar ist aber, und das zeigt der neue Rentenbericht: Begünstigt würden nach der Neuregelung diejenigen, die eh schon relativ hohe Renten zu erwarten haben – nämlich Vollzeit arbeitende Männer und nicht Frauen in Teilzeit mit niedrigerer Entlohnung. Genau diese Gruppe ist aber zunehmend von Altersarmut bedroht.
Kein Wunder, erhalten doch fast die Hälfte aller Altersrentnerinnen im Westen Renten, die weniger als 450 Euro monatlich betragen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass darunter auch spätere Beamtinnen oder Selbstständige sind und viele Frauen neben ihrer eigenen Altersrente noch Witwenrente beziehen, ist diese Zahl sehr niedrig – zu niedrig.
Westdeutsche Frauen haben in der Vergangenheit zu wenig gearbeitet. Und wenn sie gearbeitet haben, haben sie schlechter verdient als Männer. Auch das legt die Grafik „So viel Rente – nach Versicherungsjahren“ nahe (siehe Bilderstrecke oben)
Im Osten war das anders – hier haben Männer wie Frauen früh und lang gearbeitet. Weshalb beide jetzt im Alter von der Übernahme in die bundesdeutsche Rentenversicherung profitieren – für die zahlt sich jedes Jahr aus, wie die Tabelle oben zeigt.
Allerdings: Die höheren Renten im Osten können dort nicht erwirtschaftet werden. Auch das zeigt der neue Rentenbericht. Heuer beträgt das Defizit im Osten 14,7 Milliarden Euro. Ausgeglichen wird das Loch durch Überschüsse im Westen (heuer 15,9 Milliarden).
Zudem zahlt der Steuerzahler neben dem jährlichen Zuschuss von 60 Milliarden Euro noch weitere 25 Milliarden Euro unter anderem für Grundsicherung im Alter und Erziehungszeiten. Hierin sind auch die Gelder für die bisherige Mütterrente enthalten.
Die neue Mütterrente soll hingegen aus Rentenbeiträgen finanziert werden, etwa durch einen Verzicht auf die fällige Beitragssenkung (AZ berichtete). Das entspräche zwar nicht geltendem Recht, stellt das Ministerium fest, würde aber einen Anstieg der Sätze auf über 20 Prozent in rund zehn Jahren auch nicht verhindern.
Beitrags- und Versicherungsjahre – der Unterschied
BEITRAGSJAHRE: Sie bestimmen die Rentenhöhe. Zu den Beitragsjahren zählen neben Zeiten mit sozialversicherter Beschäftigung auch Kurzzeit-Arbeitslosigkeit (in der Regel ein Jahr), Berufsausbildung, Wehrpflicht und Kindererziehung. Für diese Zeiten zahlt der Staat ganz oder teilweise Beiträge. Erziehungszeit wird Frauen rentensteigernd mit drei Beitragsjahren angerechnet für Kinder, die ab 1992 geboren sind; für früher geborene Kinder wird – bisher – ein Beitragsjahr gutgeschrieben.
VERSICHERUNGSJAHRE: Sie umfassen neben den Beitragszeiten auch beitragsfreie Zeiten, wenn Eltern etwa für die Erziehung eines Kindes bis zum 10. Lebensjahr ihre Berufstätigkeit unterbrechen. Arbeitslosigkeit spielt keine Rolle. Diese beitragslosen Zeiten werden bei den Wartezeiten berücksichtigt, die man erfüllen muss, um überhaupt Leistungen aus der Rentenversicherung – etwa Reha – zu erhalten.