So packt BMW die Zukunft an

München - Links antäuschen und rechts vorbei, das kann nicht nur im Fußball Vorteile bringen, sondern auch im chinesischen Straßenverkehr. Mehr noch: In den Millionenstädten des Reiches der Mitte gibt es Kreuzungen, bei denen man sich rechts einordnen muss, um links abzubiegen.
Lesen Sie hier: Die deutschen Stars der Auto China
Die eigenartigen Abbiegeregeln sind nur ein kleiner Aspekt des komplexen chinesischen Straßenverkehrs. So gibt es auch vielspurige Straßen, auf denen für die verschiedenen Fahrstreifen unterschiedliche Tempolimits gelten. Jenseits der offiziellen Verkehrsregeln sind die Verkehrsteilnehmer zudem äußerst kreativ. Fahrbahnmarkierungen gelten allenfalls als gut gemeinte Empfehlungen und im Dunkeln schaltet kaum einer der Millionen Elektrorollerbesitzer das Licht ein, weil es die Reichweite verringern würde.
Dem Chaos digital Herr werden
Wer hier ein Auto halb- oder gar vollautomatisiert durch den Verkehr lenken kann, für den gilt, was Frank Sinatra über New York gesungen hat: „Wenn ich es hier schaffe, schaffe ich es überall.“ Und der bayerische Automobilbauer BMW will es schaffen.
„Highly Automated Driving“ (HAD), hochautomatisiertes Fahren, sei „das“ Thema der näheren Zukunft, sagt Rene Wies, Chef der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von BMW in China. Es geht also darum, wie man dem realen Chaos digital Herr werden kann.
Lesen Sie hier: Das Problem der Autobauer in China
Bisher hieß es, in China werde nur produziert, die Kopfarbeit, das Forschen und Entwickeln aber passiere woanders – im Falle von BMW vor allem im berühmten Münchener Forschungszentrum „FIZ“. Aber das Monopol auf Kreativität und Erfindungsreichtum wankt. In China hat BMW in aller Stille das einzige große Forschungs- und Entwicklungszentrum außerhalb Deutschlands installiert.
Ein Heer von 600 Ingenieuren zerbricht sich in Shanghai und Shenyang den Kopf, wie man die Autos mit der Niere den speziellen chinesischen Bedürfnissen gemäß weiterentwickeln kann, um für die enormen Herausforderungen Lösungen zu bieten. Die weit überwiegende Mehrzahl der Forscher und Entwickler von BMW China kommen aus dem Land. Was auch das Vorurteil widerlegt, dass Chinesen nur gut kopieren können, aber zu erfolgreichen Eigenkreationen nicht in der Lage wären.
Auto soll Fragen beantworten
Ruijin ist ein alter Stadtteil mitten in der Mega-Metropole Shanghai. In den mit Platanen gesäumten Straßen gibt es angesagte Restaurants und Cafés, Künstlerwerkstätten und ausgefallene Boutiquen. Man könnte sich gut vorstellen, dass Ruijin ein Stück weit zum Silicon Valley Chinas werden könnte. Jedenfalls hat sich BMW eine idyllische Immobilie für sein „Technology Office“ gesichert.
Da wird auch – Silicon Valley lässt grüßen – in der Garage gewerkelt. Einen in China gebauten 3er BMW haben die Tüftler mit allen möglichen Radar- und Lasersensoren sowie Kameras ausgerüstet, um damit das HAD vorzubereiten.
HAD bedeutet eine weitgehende Unterstützung des Fahrers, aber noch nicht vollautomatisches Fahren. Wer sich den Verkehr in Shanghai, Peking und den anderen Millionenstädten ansieht, kann sich schon die erste Stufe kaum vorstellen. Aber nicht nur was die Verkehrsverhältnisse angeht, ist das Reich der Mitte sehr speziell, auch seine Sprache gehört zu den kompliziertesten überhaupt.
Deshalb beschäftigt man sich in Shanghai auch mit der virtuellen und akustischen Verkehrszeichen- und Spracherkennung durch Computer. Das Auto soll in nicht allzu ferner Zukunft nicht nur einfache Befehle verstehen, sondern auch Fragen beantworten wie: „Wo ist das nächste Restaurant mit scharfen Speisen?“ Und das in verschiedenen chinesischen Dialekten.
BMW ist überzeugt, dass sich der Aufwand lohnt. Denn das Land ist vor den USA zum größten Automarkt der Welt geworden. Auch wenn die Neuverkäufe nicht mehr zweistellig zunehmen, ist das Wachstum mit keiner anderen größeren Weltregion vergleichbar. Deshalb denkt man bei den chinesischen BMW-Entwicklern auch darüber nach, wie man einen BMW „chinesisch“ machen könnte.
Alle drei deutschen Premiumhersteller – neben BMW auch Audi und Mercedes – haben sich schon längst mit verlängerten Versionen ihrer Fahrzeuge auf den stark von Chauffeurslimousinen geprägten Markt eingestellt. Eigentlich ein Widerspruch zur BMW-Philosophie „Freude am (selber) Fahren“, aber das Geschäft läuft. 2015 könnten die Münchener gut eine halbe Million Pkw in China absetzen, die meisten davon aus den BMW-Brilliance-Werken in der Region von Shenyang.
260 Stunden pro Jahr im Stau
BMW betreibt einigen Aufwand, um herauszubekommen, inwieweit sich der chinesische Autofahrer von dem deutschen unterscheidet und ist dabei zu teilweise erstaunlichen Ergebnissen gekommen.
So verbringt der chinesische Autolenker pro Jahr 260 Stunden im Stau, der deutsche nur zwölf. 36 Mal im Jahr wird der Chinese mit Fußgängern auf der Autobahn konfrontiert, der deutsche nur drei Mal. Durchschnittlich gar nicht erlebt der Deutsche binnen zwölf Monaten, dass ihm auf der Autobahn ein Auto rückwärts entgegen kommt, dem Chinesen widerfährt dergleichen zwölf Mal.
Das Wichtigste aber ist der hohe Blutzoll auf chinesischen Straßen. Während die Statistik für Unfälle mit Blech- und leichteren Personenschäden nicht vergleichbar ist, weil sie oft gar nicht aufgenommen werden, ist die Zahl der Verkehrstoten erschreckend: 2012 kamen allein in Shanghai 916 Menschen auf den Straßen ums Leben, in München 23. Während das europäische Publikum technologischen Neuerungen stets mit einer gewissen Reserve begegnet, giert das chinesische danach.
Sein Großvater ist 90 Jahre alt, erzählt der Shanghaier BMW-Ingenieur Ning Wang. Ein Tablet-PC sei ständiger Begleiter des alten Herrn. Zahlen machen die Technikaffinität deutlich: 70 Prozent der Chinesen besitzen heute schon ein Smartphone, aber nur 57 Prozent der Amerikaner und 50 Prozent der Deutschen.
Digitale Assistenz, die so mancher Mitteleuropäer als Firlefanz abtun mag, ist bei den Chinesen offenbar hoch willkommen. Denn die schwierigen Verkehrssituationen verwirren nicht nur den westlichen Besucher. Überall bemerkt man in den Straßen der Städte orientierungslos umherirrende Pkw, die ordentlich angehupt werden.
Für solche Probleme ist der „Mobilitätsanbieter“ BMW schon zur Stelle: In einem Monat setzen die etwa zwei Millionen chinesischen BMW-Fahrer inzwischen bis zu 800.000 Anfragen um Hilfestellungen an das „Connected Drive“-System ab, berichtet Wies. „So viel wie sonst in keinem anderen Land der Welt.“