Realität besser als Harry Potter
Mit diesem Buch ist sie endgültig im literarischen Olymp! Wer in diesem schon im Klappentext als ,Erwachsenenroman’ bezeichnenten Werk nach Spuren von „Harry Potter“ sucht, wird sie vielleicht noch im fantastischen Einfühlungsvermögen in Pubertäts-Jugendliche finden. Aber die Welt des „Plötzlichen Todesfalles“ ist eine ernste und harte, wenn auch wunderbar eingebettet zwischen Bruchsteinmauern, Backsteinhäusern und Blumenvorgärten. Denn Pagford ist ein klischeehaft schöner englischer Ort, der die Kirche noch im Dorf lässt wie auch den Lebensmittelladen des dicken, konservativen Bürgermeisters Howard Mollison.
Dass der linksliberal engagierte Gemeinderat mit dem sprechenden Namen Fairbrother schon auf Seite drei einen tödlichen Gehirnschlag erleidet, leitet einen anfangs noch pietätvoll subtil geführten Kulturkampf ein: nach außen nur um den frei gewordenen Gemeinderatssitz, aber letztlich um die entscheidende Frage, wie eine Gesellschaft aussehen soll: sozial oder ausgrenzend.
Hinter der hübschen Dorffassade wogt der Neid
Bereits in den ersten zweihundert Seiten gelingt es Rowling, ein unfassbar elegant gesponnenes Beziehungsnetz über den Ort zu legen, das alle miteinander nachbarschaftlich zu verbinden scheint, aber hinter den Fassaden werden alle möglichen Trennungslinien gelebt: zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen, Händlern, Handwerkern und dem studierten indischen Arztehepaar mit Familie, zwischen selbstdefinierter Bürgerlichkeit und sozialen Problemfällen. Denn die Nachbarstadt hat sich – nach einer Grundstücksspekulation – mit ihren Beton-Stadtrandwohnblöcken auf das Dorfgemeindegebiet vorgeschoben, so dass erste verschreckte Bürger ihre Kinder jetzt lieber in die Privatschule schicken als auf die klassen-durchmischte öffentliche Schule.
Die Heldin kommt aus einem krassen Haushalt
Am Ende wird es nicht nur den toten Gemeinderat geben – auch ein frühreifes Mädchen aus harten Verhältnissen und ihr kleiner Bruder lassen ihr Leben. Bis dahin hat Rowling alles völlig unbemüht eingebaut: größenwahnsinnige und gehänselte Teenager, Facebook-Mobbing, intakte Ehen, Seitensprünge, Patchwork-Familien, soziales Engagement und vor allem das Schulleben, wo über die Kinder doch alle mit allen verbunden sind.
Ein indisch-stämmiges Mädchen und eine Überlebenskampf-Kriegerin aus krassem Haushalt sind dabei Lichtfiguren, auch wenn man das den beiden durch unseren Vorurteilsblick, mit dem der Roman geschickt spielt, lange gar nicht ansieht. Und bei alledem haben wir auf unsere Gesellschaft geschaut, auf Dünkel und Doppelmoral und genauso unsere eigenen Vorurteile – alles in unglaublicher Spannung, aber nie auf bloße Effekte aus.
Rowling bezieht dabei liberal und vor allem sozial Stellung, nie platt, nie ideologisch, sondern plastisch durch Figuren, die wir schon nach wenigen Sätzen wie gute Bekannte oder Nachbarn zu kennen glauben. So ist ein packend engagierter Gesellschaftsroman entstanden, der kunstvoll, intelligent, dabei sprachlich fein und doch unfassbar flüssig und wahrhaft geschrieben ist. Das alles kann nur große Literatur.
Carlsen, 575 Seiten, 24,95 Euro
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