Wolfgang Rihm: Der große Netzwerker
München - Vor 50 Jahren zeigte der mit dem hessischen Ortsnamen Darmstadt verbundene Stil der Neuen Musik erste Anzeichen der Ermüdung. Die Werke wirkten hermetisch, abstrakt und kalt. Eine neue, jüngere Generation von Komponisten legte den Rechenschieber zur Seite und verzichtete darauf, Notenwerte an Zahlen- oder Proportionsreihen auszurichten.
Emotion und subjektiver Ausdruck waren wieder gefragt, auch der Rückgriff auf spätromantische Gesten war nicht länger verpönt. Schon damals zeichnete sich ab, dass Wolfgang Rihm die zentrale Figur dieser Generation werden könnte.
Eine Konzertreihe zum 70. Geburtstag von Wolfgang Rihm
Am Sonntag feierte er seinen 70. Geburtstag, in der Woche davor ehrte die musica viva des Bayerischen Rundfunks den Komponisten mit einer kleinen, sehr gut besuchten Konzertreihe im Herkulessaal der Residenz, bei der sich Rihms Rang ebenso bestätigte wie die möglichen Einwände, die sich gegen seine Werke vorbringen lassen.
Er komponierte schon über 500 Werke
Rihm ist das Komponieren immer sehr leicht gefallen, manchmal auch zu leicht. Es ist kaum möglich, seine 500 Werke zu überblicken. In den Spielplänen hält sich die frühe Kammeroper "Jakob Lenz". Sie ist fast ein Repertoirestück geworden.
Wenn die 1992 in Hamburg uraufgeführte "Eroberung von Mexico" nach Antonin Artaud nicht so aufwendig wäre, würde sie wohl häufiger gespielt. Eigentlich müsste dieses Werk, in dem Montezuma von einer Frau gesungen und endlos die Worte "männlich, weiblich, neutral" skandiert werden, in Zeiten fluider Geschlechterrollen und Kolonialismusdebatten an Aktualität kaum verloren haben.

(Größen-) Wahn und Verstörtheit
Bühnenwerke sind allerdings nicht die Sphäre der musica viva, und eines der wichtigsten Werke Rihms, das monumentale "Tutuguri"-Ballett wurde vor einigen Jahren konzertant von Kent Nagano aufgeführt. Für den umfangreichen Werk-Komplex, der sich über Texte von Artaud mit dem Grenzbereich von (Größen-) Wahn und Verstörtheit auseinandersetzt, standen im Konzert des BR-Symphonieorchesters unter Ingo Metzmacher Lieder nach Texten von Adolf Wölfli aus dem Jahr 1981.
Rihm übersteigert die wahnhaft brutale Naivität der Dichtungen mit Gesten aus den Wunderhorn-Liedern von Gustav Mahler. In Georg Nigl, dem Extreme mühelos aus der Kehle kommen, fanden diese Miniaturen den idealen Interpreten.

Sehr heftige, geradezu körperliche Musik
Auch der ruppige, von den Solisten Lawrence Power und Nicolas Altstaedt bewältigte "Erste Doppelgesang" für Bratsche, Cello und Orchester gehört in diese Phase. Das ist eine sehr heftige, geradezu körperliche Musik, die für den frühen Rihm charakteristisch ist. Aber daneben gibt es immer eine ganz leichte, etwas akademisch altmeisterlich wirkende Distanz, die im Alterswerk stark hervortritt.
Rihm: ein stilistisches Chamäleon
In mittleren Jahren war Rihm ein stilistisches Chamäleon: Die "Die Stücke des Sängers" für Harfe und Ensemble klingen allein wegen des Solo-Instruments erwartbar französisch und kristallin - als sei es ein Nebenwerk von Pierre Boulez. Bezeichnenderweise wurde dieses Stück auch für das von ihm gegründete Ensemble Intercontemporain komponiert.
Und diese Erwartbarkeit verstimmt, trotz aller Mühe der Solistin Magdalena Hoffmann um dieses Werk. Das bläserlastige Orchesterstück "In-Schrift" wandelt auf den Spuren von Olivier Messiaen und Igor Strawinsky, ohne deren schlichte Monumentalität zu erreichen.
Quälerische Tenorlage für den Bariton
Im Spätwerk dominiert die Handgelenksarbeit. In der vom Chor des Bayerischen Rundfunks in Auftrag gegebenen "Missa brevis" schlägt die Kunstlosigkeit in Leere um. Rihm soll die "Terzinen an den Tod" für Georg Nigl komponiert haben, der sie auch in München interpretierte. Die Komposition treibt den Bariton ständig in eine grausam quälerische Tenorlage hinauf, die dieser Künstler zwar mühelos bewältigt, ohne dass das wirklich zu seiner Stimme passen würde.
Im besten Sinn traditionelle Kammermusik ist das von Musikern aus dem BR-Symphonieorchester mit Jörg Widmann aufgeführte Klarinettenquintett. Aus dem Finale, das nicht endenwollend zu einem Schluss ansetzt, ohne ihn zu finden, spricht Rihms größte Schwäche: sein redseliger Unwille zur Verdichtung.
Der Jubilar ist ein großer Netzwerker
Der Jubilar hat dies durch eine nicht zu unterschätzende Qualität aufgewogen, für die hier die Person des Solisten stehen mag. Widmann ist - natürlich - Rihm-Schüler. Und der Meister sitzt im einflussreichen Kuratorium des Ernst von Siemens Musikpreises. Der Jubilar ist ein großer Netzwerker, und auf diesem Gebiet womöglich noch besser wie als Komponist.
Das Orchesterkonzert der musica viva hier als Video-Stream auf BR Klassik sehen.