Kritik

So dirigierte Christian Thielemann das Neujahrskonzert

Wohltuend unsentimental: Der Dirigent Christian Thielemann, leitete das tradionelle Konzert der Wiener Philharmoniker zum Jahreswechsel.
Michael Bastian Weiß |
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Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins.
Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins. © picture alliance/dpa/WIENER PHILHARMONIKER/APA

In Lederhosen könnte man sich Christian Thielemann, anders als manches Mitglied der Wiener Philharmoniker, nicht vorstellen. Oder dass er, der gebürtige Berliner, und sei es nur zum Spaß, sich am charmant knatschigen österreichischen Dialekt versuchen würde.

Weniger bildlich, sondern gesellschaftspolitisch seriös ausgedrückt: Der kulturellen Aneignung ist Thielemann nicht verdächtig. Vielleicht haben sich die Wiener Philharmoniker den bald 65-Jährigen deshalb nun bereits zum zweiten Mal für die Leitung ihres Neujahrskonzertes ausgesucht.

Der Dirigent Christian Thielemann: Unsentimental und betont professionell

Selbst gestandene Dirigentenpersönlichkeiten haben nämlich großen Respekt vor dieser Aufgabe, nicht nur, weil bei dieser allseits lukrativen Veranstaltung Millionen von Menschen in gut 90 Ländern vor dem heimischen Bildschirm sitzen – einer unter ihnen der Verfasser dieser Zeilen –, und live verfolgen können, was gut oder möglicherweise eher so mittelgut gelingt.

Besonders haarig ist das Neujahrskonzert vielmehr deshalb, weil die Wiener Philharmoniker zu diesem Anlass mit all den Märschen, Polkas und Walzern der Strauß-Dynastie inklusive ausgewählter Gastkomponisten ihr ureigenes Repertoire spielen, das sie besser kennen als jeder Dirigent.

Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker: Thielemann hört nicht nur zu, er interpretiert

Wie schon bei seinem neujährlichen Debüt 2019 geht Christian Thielemann mit dem Verdacht, als Dirigent von Donau-Walzer und Radetzky-Marsch eigentlich überflüssig zu sein, äußerst souverän um. Weder tut er bescheiden, so, als ob er gleichsam nur zum Lernen gekommen sei, noch versucht er, den Wienern die Musik von Vater und Sohn Johann Strauß zu erklären.

Den einleitenden Erzherzog Albrecht-Marsch von Karl Komzák dirigiert er geradlinig durch, so, wie er sich bei der Polka schnell "Ohne Bremse" von Eduard Strauß nicht durch rhetorische Pausen und Zergliedern der Phrasierung aufhält. Melodische Auftakte wie in der "Figaro"-Polka von Strauß II schweben bei ihm nicht gefühlt ewig in der Luft, sondern behalten Spannung, drängen weiter.

Christian Thielemann.
Christian Thielemann. © picture alliance/dpa/WIENER PHILHARMONIKER/APA

Mit hintergründigem Witz

Thielemanns Musizieren ist hier im Wiener Musikverein wohltuend unsentimental und betont professionell. Mit seiner aufrechten Körperhaltung, fast noch mehr durch den hintergründigen Witz seiner unbewegten Miene, strahlt er gegenüber Orchester und Publikum aus: Wir können es, wir wissen alle, dass wir es können, und wir haben Freude daran, wie gut wir es können. Die Wiener Philharmoniker zaubern nicht, aber gerade diesem populären Repertoire steht das vernünftige Maßhalten besonders gut an.

In der Ouvertüre zur Operette "Waldmeister" von Johann Strauß Sohn ballen sich die Streicher weder martialisch im Tutti noch fangen sie bei den Dolce-Kantilenen saccharinhaltig an zu tropfen. Und die klingenden Augenaufschläge des Walzers "Für die ganze Welt" von Josef Hellmesberger behalten die Contenance anstatt in frivoles Zwinkern auszuarten.

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Ungewöhliches vom großen Symphoniker

Als praktisch erweist sich schließlich noch Christian Thielemanns ausgewiesene Kompetenz in Sachen Anton Bruckner. Markiert wird der Beginn des Jahres, in dem wir den 200. Geburtstag des großen Symphonikers feiern, mit einem so reizvollen wie untypischen Stück: der Quadrille WAB 121, geschrieben ursprünglich für Klavier zu vier Händen, orchestral handkoloriert von Wolfgang Dörner. Wer hätte gedacht, dass der Großsymphoniker und Kontrapunktiker sich auch im Genre des seinerzeit modischen französischen Kontratanzes so gewandt äußern konnte?

Andererseits: Wer hätte Thielemann zugetraut, dass er beim "Radetzky-Marsch" von Vater Strauß eine solche Lust an der Subversion zeigen würde: Den Wiener Philharmonikern wendet er den Rücken zu und konzentriert sich darauf – das unvermeidliche Mitklatschen des Publikums auf das mögliche Minimum zu begrenzen. Auch das, wenn man so will, ein Zeichen gegen kulturelle Aneignung...

Bereits am 12. Januar erscheint das Neujahrskonzert 2024 auf CD und digital bei Sony Classical. Am 26. Januar folgen dann die DVD und die Blu-ray. Das Neujahrskonzert 2025 leitet Riccardo Muti

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  • tutnixzursache am 01.01.2024 18:42 Uhr / Bewertung:

    „ Zeichen gegen kulturelle Aneignung“
    Gehts noch?

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