Simon Rattle nimmt wenig Rücksicht
Man stelle sich einmal vor, man sei eine Sängerin oder ein Sänger, steht auf der Bühne, produziert höchste Töne - kann sich aber selbst kaum hören und fürchtet, dass es dem Publikum noch schlechter gehen wird. Keine schöne Vorstellung.
Wir wissen es nicht genau, aber Lise Davidsen und Stuart Skelton könnten sich im zweiten Akt von "Tristan und Isolde" ungefähr so fühlen. Sie werden es geahnt haben, dass es in einer konzertanten Aufführung von Richard Wagners Musikdram schwieriger sein wird, sich gegen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks durchzusetzen, das hier nicht im Graben sitzt und somit gedämpft wird, sondern auf der Bühne der Isarphilharmonie ungebremst erschallt.
Die Sänger gehen unter
Aber dass sie der Dirigent Simon Rattle derart allein lässt? Lise Davidsen ist für die Rolle der Isolde geboren, ihr Sopran führt schon im Piano eine schier verschwenderische Fülle von Farben mit sich, die sich bruchlos von der substanzvollen Tiefe in die hohe Lage durchzieht, und die Spitzentöne prangen wie Sterne. In der Mitte aber braucht ihre naturhafte Stimme einen Sekundenbruchteil, um sich einzuschwingen. Die sportiven Tempi, die Rattle wählt, lassen ihr dafür keine Zeit, sodass Ton - und Sprache - oft untergehen.

Noch schlimmer trifft es Stuart Skelton, dessen so weicher wie fokussierter Tenor verlässlich in die Höhe aufsteigt und genießbar in die Tiefe hinab. Zumindest auf einem der nicht so guten Plätze im hinteren Teil des Parketts von HP 8 kann man die Anstrengung des Sängers sehen, aber beim besten Willen allzu oft nicht hören, und wenn, dann als einen winzigen Farbtupfer im Getöse.
Wie eine edle Posaune
Es ist verständlich, dass Simon Rattle stolz die Macht ausstellt, zu der das BR-Symphonieorchester auffahren kann. Die Streicher packen robust zu, in den gesanglicheren Passagen vibrieren sie nur wenig. Das beraubt sie zwar jeglicher Wärme, kann jedoch durch die historischen Gepflogenheiten begründet werden.
Damals klangen aber auch die Hörner viel zarter und leichter als heute. Inkonsequent ist daher, dass Rattle sie oft wie Panzer über die Titelfiguren drüberfahren lässt, selbst, wenn der Komponist "dolce" und Pianissimo notiert.

In seinem großen Monolog am Ende des Aufzugs muss Christof Fischesser - als Marke für den erkrankten Franz-Josef Selig eingesprungen - oft forcieren. Nur Karen Cargill als Brangäne kann sich verlustfrei durchsetzen, aber ihr Mezzosopran verfügt auch über eine sensationelle Grundgewalt, die in der Tiefe an eine edle Posaune erinnert.
Ja, es ist gerade in diesem Ausnahmewerk wie "Tristan und Isolde" schwer, die notorisch kräftezehrenden Partien gegenüber einem ausladenden Orchester in Schutz zu nehmen. Wenn man aber als Chefdirigent eines exzellenten Orchesters, das noch dazu beste Probenbedingungen in Anspruch nehmen könnte, alle Möglichkeiten hat, um eine Balance zwischen Gesang und Instrumenten auszutüfteln - sollte man es dann nicht wenigstens versuchen?
Auf br-klassik.de und brso.de kann man das Konzert nachhören.