Schaden von der Gesellschaft wenden
Manchmal ist die Kunst schneller als die Politik. Da ist die Pandemie: Ihre Aufarbeitung hat erst zögerlich begonnen. Erste Gerichtsurteile haben manche Auflage zu ihrer Bekämpfung als rechtswidrig erklärt, gerade im überstrengen Bayern. Allerdings muss es auch um die psychisch-mentale Gesundheit unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft gehen. Im Vergleich zu anderen Ländern Europas wird hierzulande dieser gesellschaftskritische Diskurs in der Breite kaum geführt: zumal in Bayern, wo wichtige Landtagswahlen anstehen.
Zwei neue Werke
Umso zwingender war jetzt ein Konzert der musica viva mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal unter der Leitung des Komponisten Matthias Pintscher. Mit seinem "Neharot" für großes Orchester sowie "Atara" von Chaya Czernowin aus Israel, ein "Lamento" für Orchester mit zwei verstärkten Stimmen, waren zwei neue Werke zu erleben, die im ersten Jahr der Pandemie entstanden sind. Beide Werke tragen hebräische Titel.
"Echo der Verwüstung und Angst"
Während "Neharot" sowohl Flüsse als auch Tränen bedeuten kann, lässt sich "Atara" mit Krone oder Kranz übersetzen. Beide Werke reflektieren die Zeit des ersten Lockdowns ganz direkt. Die Lösungen und Art der Reflexion könnten unterschiedlicher nicht sein. Bei Pintscher stehen die furchtbaren, täglichen Todesfälle der ersten Monate im Zentrum. Im Programmheft schreibt er von einem "Echo der Verwüstung und Angst, aber auch der Hoffnung auf Licht". Im Verlauf des Stücks erklingt eine Solotrompete im Stil eines Trauer-Kaddisch.
Auf die Flüsse des Werktitels verweisen die fließenden Strukturen, mit denen Pintscher auch hier arbeitet. Das Stärkste in diesem 2021 in Tokio uraufgeführten Werk sind die ersten zehn Minuten. Mit roher Gewalt bricht eine Tutti-Fanfare samt Donnerblech herein. Es folgen schattenhafte Atemgeräusche und grotesk-makabre Pizzicati. Doch schon bald flacht das Geschehen ab.
Zwingender und überraschender
Das Trompeten-Solo erinnert an Gustav Mahler. Andernorts wähnt man sich in der "Lichter"-Ausrufszene der Klytämnestra aus der "Elektra" von Richard Strauss, mit der das Wortduell zwischen Tochter und Mutter endet. Das alles ist kunstvoll gesetzt, trägt aber nicht eine knappe halbe Stunde. Ganz anders das im November 2021 uraufgeführte Werk von Czernowin: Ihre Musik mag sperriger sein als die zum Teil dekorativ hergerichtete Klangsprache Pintschers, ist aber in jedem Takt umso zwingender und überraschender.
Ein stringentes, inneres Narrativ
Für Czernowin hat das Schöne nichts mit Schönklang gemein, sondern stets mit dem Moment des Risikos fernab jeder Routine. Diese Haltung war auch Ende Januar bei einem Czernowin-Porträt des Münchener Kammerorchesters hörbar. Auch hier wirkt nichts beliebig, sondern folgt einem stringenten, inneren Narrativ, das die rund 40-minütige Dauer mühelos trägt.
Bleibende Schäden für die Gesellschaft abwenden
Jähe Ausbrüche prallen auf stillste, geräuschhafte Klangaktionen. Mikrotonale Brechungen sowie differenzierte Glissando- und Clusterstrukturen machen hörbar, dass hier eine Welt aus den Fugen ist. Eine totale Entfremdung im Kontrollverlust äußert sich auch in der teils lautmalerischen Behandlung des Gedichts von Zohar Eitan. Die exzellente Gestaltung durch die puerto-ricanische Sopranistin Sophia Burgos und den Bariton Holger Falk machte hörbar, wie verloren das Ich wirkt: um Worte ringend, wofür es keine Worte gibt.
Das Ich ist dem Orchester genauso ausgeliefert wie in den rohen Cluster-Ausbrüchen in "Shaar" von Iannis Xenakis für Streicher von 1982, mit dem der Abend nicht minder packend startete. Dieses dramaturgisch beispielhaft gekoppelte Konzert hat eines klar gezeigt: Die Pandemie muss endlich voll umfänglich und rückhaltlos aufgearbeitet werden, um bleibende Schäden für unsere Gesellschaft abzuwenden: so wie jedes Trauma.