Patti Smith auf dem Tollwood: Dichtung und wahrer Garage Rock
München - Einen besseren Abschluss hätte es für das Sommer-Tollwood kaum geben können.
Nicht nur, weil Patti Smith die Musikarena bis auf den letzten Platz füllte und die Zuschauer begeisterte. Nein, die legendäre Sängerin, Poetin und Bestseller-Autorin sprach noch dazu in den höchsten Tönen von dem Festival - und widmete ihm sogar ein Lied! Wo sonst würden Menschen so eins sein wie bei einem Festival, fragte sie, einem so tollen wie diesem Tollwood zum Beispiel? Darauf also den "Ghost Dance", tayi, taya!
Patti Smith: Groß-Charismatikerin, Total-Nonkonformistin und hochsympathische Frau
Eins war das Publikum an diesem Abend in seiner Begeisterung für diese Erscheinung auf der Bühne: diese Groß-Charismatikerin in ihrem lässig-schlabbrigen Dreiteiler; diese Total-Nonkonformistin, die auch mal auf die Bühne spuckt, wenn zu viel Speichel im Mund ist; diese hochsympathische Frau, die ihre Spucke dann selbst mit dem Handtuch vom Boden wischt und Bühnenassistent Andrew freundlich vorstellt, als der das Handtuch von der Bühne trägt.
Dem Publikum schenkt der Weltstar nicht nur viel Leidenschaft und Herzlichkeit, sondern auch ein sehr abwechslungsreiches Programm. Auf das stimmt vor Beginn Bob Marley aus den Boxen ein, und der Reggae-Beat geht nahtlos in Patti Smiths Eröffnungssong über: "Redondo Beach" von ihrem legendären Debütalbum "Horses", das heitere, ewig paradoxe Lied über einen Selbstmord, es ist eines der schönsten des Abends.
Danach folgen Stücke aus fast allen Jahrzehnten ihrer Karriere, gleichmäßig verteilt von "Dancing Barefoot" und "Pissing In A River" aus den Siebzigern bis zu "Nine" von 2012. Und Patti Smith singt auch Stücke ihrer bewunderten Kollegen: Neil Youngs getragenes "After The Gold Rush" liegt ihr stimmlich nicht so sehr, "The Wicked Messenger" umso mehr. Da rockt die Band elegant zwischen Dur und Moll umher, Patti untermalt quasi-pantomimisch alle Zeilen und ruft danach begeistert den Namen von deren Verfasser ins Tollwood-Zelt: "Bob Dylan! Bob Dylan!".
Patti Smith lässt Gitarrist und Sohn Jackson gemeinsam mit Bassist Tony Shanahan wirbeln
Auch ihrem gemeinsamen Freund Allen Ginsberg erweist sie die Ehre: Sie setzt ihre Brille auf, lässt sich ein DinA-4-Blatt reichen, rezitiert "Footnote To Howl" - und stetig größer werden Intensität, "Holy!", Leidenschaft, Holy! Holy!, und offenbar auch Speichelfluss, Holy, spuck, Holy! Holy!
Als sei das noch nicht genug der Unterhaltung und Abwechslung, überlässt Patti Smith auch mal ihren Mitmusikern das Rampenlicht, etwa bei "Beneath The Southern Cross". Nach ruhigen Strophen wirbeln Bassist Tony Shanahan und der sehr gute Gitarrist Jackson Smith - Pattis 40-jähriger Sohn - allmählich einen Rock-Tornado auf, aus dem sie Zitate von George Harrisons "Within You Without You" und Jimi Hendrix' "1983" herausschleudern.
Gitarrist Lenny Kaye widmet "I Wanna Be Your Dog" Thomas Mann
Und auch Gitarrist Lenny Kaye tritt nach vorn. Er war wie Schlagzeuger Jay Dee Daugherty schon 1975 bei "Horses" dabei, ja ohne seine Unterstützung gäbe es wohl nur die Poetin Patti Smith, nicht aber die Sängerin. Und selbst dann hätte Kaye an der Rockgeschichte mitgeschrieben, auch weil er mit LP-Kompilationen die heutige Vorstellung von Garage Rock geprägt und den Weg für den Punk geebnet hat. Dem Genre widmet sich der junggebliebene 75-Jährige mit dem Peace-Zeichen auf dem Shirt auch bei seiner Einlage, und die nutzt er für die beste Pointe des Abends: Er widme das nächste Stück einem Münchner, sagt er, Thomas Mann. Dann spielt er "I Wanna Be Your Dog" von Iggy Pops Stooges.
Den Geist des Garage Rock spürt man auch sonst durch manche Momente dieses Abends wehen. Und da ist es dann auch herzhaft egal, wenn Patti Smith zwischendrin mal ein Ton verrutscht oder die Band mal nicht allzu mächtig klingt.
Aufruf von Patti Smith: "Nicht vergessen - nutzt Eure Stimme!"
Denn das Charisma dieser Frau und ihrer Stimme liegt über allem. Und alles fügt sich auf bewegende Weise zusammen, als sie im Schlusssong ihre allerberühmteste Zeile singt: "Jesus died for somebody's sins but not mine", wenn sie Buchstabe um Buchstabe schreit, G, L, O, R, I, A, wenn der Chor "Gloria" hinterherruft und in dem 6.000-Personen-Zelt die geballte Kraft von Poesie und Garage Rock explodiert.
Danach kommt Patti Smith für eine Zugabe zu ihrem ekstatischen Publikum zurück, um, unverdrossen von den düsteren Zeitläuften, ihre große Hymne "People Have The Power" zu singen.
Doch davor gibt sie ihren Gästen zum Abschied noch ein Motto auf den Weg. Ein Motto, das sie selbst mit Leben gefüllt hat: mit all ihren Platten, mit ihrem wunderbaren autobiographischen Bestseller "Just Kids" und ihren weiteren Büchern, mit ihrer Poesie, ihrem politischen Aktivismus - und auch mit diesem schönen Konzert bei Tollwood. "Nicht vergessen", sagt Patti Smith zu ihren Fans: "Nutzt Eure Stimme!"
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