Lise Davidsen: Mitreißende Stimmgewalt im Cuvilliés-Theater
München - Wer schon einmal gesehen hat, wie Lise Davidsen beim Applaus nach einer Opernaufführung sowohl ihre Kolleginnen als auch ihre Kollegen teils um mehrere Kopfeslängen überragt, hat vielleicht schon einmal recherchiert, wie groß die norwegische Sängerin tatsächlich ist.
Es sind, zumindest nach dem Internet, ein Meter und 88 Zentimeter. Man erwartet also schon ein gewisses stimmliches Volumen, als sie die Bühne des Cuvilliés-Theaters betritt, einem von sich aus intimen Saal, der noch dazu pandemiebedingt mit kaum mehr als 100 Personen bevölkert ist.
Lise Davidsen: Unglaubliche Stimmgewalt der norwegischen Sopranistin
Und trotzdem lässt die schiere Macht des Organs auch erfahrenen Musikfreunden erst einmal den Mund offen stehen. Wenn Lise Davidsen loslegt, erschüttert eine unbezwingbare Naturgewalt den Raum, den man oft tatsächlich mit zu vibrieren zu hören glaubt. Noch dazu ist die Stimme durch eine souveräne Technik gesichert - allein diese Stütze!
Das wahre Phänomen aber ist, wie bewusst die Sopranistin ihre unbändigen Kräfte einsetzt. In den "Sechs Liedern" op. 48 von Edvard Grieg sucht sie schon früh die Extreme. Hat sie sich in ein markerschütterndes Fortefortissimo hineingesteigert, folgt darauf ein immaterielles, geisterhaftes Pianissimo, das nicht nur aus der Ferne, sondern aus einer ganz anderen Welt herüber zu schallen scheint.
Besondere Emotionen bei Edvard Griegs Liederzyklus
Griegs Liederzyklus "Haugtussa" bietet Lise Davidsen ein noch breiteres darstellerisches Spektrum. Erzählt werden die ersten Liebesfreuden und -leiden eines jungen Bergmädchens. Dass dessen unschuldige Reinheit nicht emotionale Unreife bedeutet, macht die höchst expressiv eingesetzte tiefe Lage deutlich, die Frau Davidsen mal betörend elegisch, mal mit fast tenoraler Stentorkraft erfüllt.
Wenn sie aber ihr Naturorgan ganz klein macht wie in den komischen und lyrischen Liedern der "Haugtussa" oder in "Morgen" von Richard Strauss, dann folgt dem schwerelos gewordenen Gesang die nur noch zu erahnende Stimmgewalt wie ein Schatten.
Mitreißende Performances von Strauss- und Wagner-Liedern
Ozeanisch wirkt die Unbewegtheit in "Ruhe, meine Seele" von Strauss, in dessen "Befreit" wird am Schluss ein Ton länger ausgehalten, als es die menschliche Physis eigentlich erlauben dürfte, in den Wesendonck-Liedern von Richard Wagner kullern die "schweren Tropfen" so suggestiv, dass man versucht ist, unter dem Sitz nachzusehen, ob sich da eine Pfütze gebildet hat. Lise Davidsen gebietet über die Stimme einer Walküre mit der Phantasie einer Poetin.
Die perfekte Begleitung am Klavier
So umfassend kann sich Leif Ove Andsnes am Flügel nicht verwirklichen. Der norwegische Landsmann der Sängerin ist ein Solist von eigenen Gnaden und somit eine luxuriöse Besetzung für einen Liederabend, ein gleichberechtigter Partner, der besonders bei Griegs bescheidenen Klaviersätzen zurückstecken muss. Eine typische Begleiterfrage auf jeden Fall braucht sich Andsnes nie zu stellen, nämlich: Bin ich zu laut?