Interview

Dreiviertelblut über das neue Album: "Inspiration ist totaler Käse"

Dreiviertelblut haben mit "Plié" ihr viertes Album veröffentlicht und spielen in der Kongresshalle.
Dominik Petzold
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Sebastian Horn (links) und Gerd Baumann gründeten vor gut zehn Jahren die Band Dreiviertelblut.
Sebastian Horn (links) und Gerd Baumann gründeten vor gut zehn Jahren die Band Dreiviertelblut. © Foto: Gloebl

München - Erst war Dreiviertelblut ein Duo, inzwischen ist um den Komponisten und Gitarristen Gerd Baumann und den Texter und Sänger Sebastian Horn eine feste siebenköpfige Band entstanden. Diese stellt nun das vierte Album "Plié" vor: Dessen Grundfarbe ist wie stets eine dunkle, doch immer wieder blitzt bayerischer Schalk auf.

AZ: Herr Horn, Herr Baumann, "Plié" ist das erste Album seit 2018. War's eine schwierige Geburt?
SEBASTIAN HORN: Eine lange leichte Geburt. Wir wollten es schon in der Coronazeit fix machen, aber immer wieder ist etwas dazwischengekommen. Wir haben die Songs öfters live gespielt, und da merkt man, wie ein Song bei den Leuten ankommt, und bekommt ein Gefühl für das Lied. Man merkt, wo man noch etwas ändern könnte. So haben wir im Frühjahr noch eine letzte Session gemacht und alle Songs nochmal aufgenommen, bei denen wir dachten, die können nicht aufs Album, wie wir sie aufgenommen hatten - weil wir sie inzwischen besser spielen.

"Wir haben uns weiterentwickelt"

Ihre Musik wurde oft als "folklorefreie Volksmusik" bezeichnet. Auf dem neuen Album hört man üppige, stilistisch vielseitige Arrangements - und von der Volksmusik ist nicht viel übriggeblieben.
HORN:
Das würde ich auch so sehen. Von der relativ einfachen Struktur der Songs haben wir uns weiterentwickelt.
GERD BAUMANN: Mir fehlt das fast ein bisschen, es könnten schon zwei, drei Stücke drin sein, die den Bogen zurückschlagen. Aber ich bin mir sicher, dass das beim nächsten Album wieder kommt - aber nicht mehr so, wie's war, sondern in einer neuen Form.

Herr Horn, in dem Dokumentarfilm "Dreiviertelblut - Weltraumtouristen" von Marcus H. Rosenmüller und Johannes Kaltenhauser hat man Sie oft im Wald gesehen. Kommt Ihnen dort die Inspiration zu Ihren Texten?
HORN: Mit unseren Hunden gehe ich in der Früh immer eine Runde von einer bis zu zweieinhalb Stunden, je nachdem, wieviel Zeit ich habe. Es dauert eine halbe Stunde, bis mein Kopf leer ist. Dann kommen Sachen auf mich zu. Gerade wenn ich beim Gerd war und eine Melodie im Kopf habe, fühle ich in mich rein: Was kommt da daher? Ich fahre gern Auto ohne Berieselung, und da komme ich auch in so einen entspannten, meditationsartigen Zustand. Da kommt dann auch etwas daher - ich weiß aber nicht woher.

Baumanns Devise: Arbeiten statt Reden

Herr Baumann, wann sind Sie inspiriert?
BAUMANN: Ein berühmter Komponist hat mal über Inspiration gesagt: Das ist totaler Käse. Was heißt hier Inspiration? Es ist halt Arbeit! Man muss früh aufstehen, sich hinsetzen und etwas tun - fertig. Wenn schon, dann geht man der Inspiration so weit entgegen, bis sie kommt und man sich trifft. Aber dafür muss man erst mal zwei Stunden gearbeitet haben. Als Zwanzigjähriger hat mir das sehr geholfen. Davor dachte ich, ich muss nach Paris fahren, um das Lied der Lieder zu schreiben. Ich fand gut, dass jemand gesagt hat: Nein, hock Dich hin, arbeite und laber nicht rum!

Wenn Sie nicht eine Professur an der Musikhochschule hätten und ein Label betreiben würden, könnten Sie also noch viel mehr Musik schreiben.
BAUMANN: Aber das sind lauter Sachen, die sich auf tolle Art ergänzen. Man muss ja auch aktiv und frisch bleiben.

Aber ist's nicht etwas viel?
BAUMANN: Ich bin gern vielbeschäftigt, ich mag es, mich gefordert zu fühlen. Manchmal merke ich aber auch, dass ich seltsamerweise nicht jünger werde. Aber solange es lauter Tätigkeiten sind, die sich gegenseitig befruchten, finde ich es super.

Glockenklang aus der Vergangenheit

Im Intro zum ersten Lied des Albums, "Om (Do schneibts)", sind Glocken der Lenggrieser Kirche zu hören, die im Zweiten Weltkrieg für die Rüstungsproduktion eingeschmolzen wurden. Wie sind Sie zu der Aufnahme gekommen?
HORN: Als diese Glocken das letzte Mal läuteten, wurde das aufgenommen und auf eine Schellackplatte gepresst. Die Sakristei der Lenggrieser Kirche wurde letztes Jahr im Zuge eines Jubiläums aufgeräumt, da kam die Platte wieder zum Vorschein. Da kamen sie im Kirchenvorstand auf die Idee, dass ich als Musiker so etwas digitalisieren kann. Kann ich natürlich nicht, aber ich kannte jemand, der das kann. Für mich war das unheimlich bewegend, dieses Läuten zu hören. Gleichzeitig haben wir damals am "Lied des unbekannten Soldaten" gearbeitet.

Ist dieses "Lied des unbekannten Soldaten" vom neuen Album also vor dem Ukrainekrieg entstanden?
BAUMANN: Ja, das hat mit der Ukraine nichts zu tun. Der Ukrainekrieg ist so allüberschattend, dass man vergisst, dass ununterbrochen auf der Welt Kriege stattfinden. Dieses Lied habe ich nach einer hervorragenden Rede von Macron am Grab des unbekannten Soldaten am Arc de Triomphe geschrieben, da ging es um Pazifismus. Welche Reden immer im Namen des unbekannten Soldaten geschwungen werden! Der Text handelt von der grauenhaften Sinnlosigkeit dieses wiederholten Sterbens.

"Hier geht's uns ja trotz Corona-Pandemie und Krieg eigentlich fantastisch"

Ihre Songs sind seit jeher dunkel. Die Welt hat sich Ihrem Sound angenähert, oder?
HORN: Interessanter Punkt. Wir sollten vielleicht mal eine Reggae-Platte aufnehmen ... Aber hier geht's uns ja trotz Corona-Pandemie und Krieg eigentlich fantastisch - ich bin jeden Tag dankbar, dass ich hier sein kann und meine Kinder gesund sind.

In "Ast vom Baam" singen sie von einem Kind und seiner Mutter, die auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken. Wie kamen sie darauf?
HORN: Während des Höhepunkts der Flüchtlingskatastrophe habe ich eine Dokumentation gesehen. Ein Boot ist gekentert und das Kind hatte keine Schwimmweste an. Da hat die Mutter beschlossen, ihre Schwimmweste auch auszuziehen, um mit dem Kind zusammen zu sterben. Ich muss gleich heulen, wenn ich das erzähle. Jedes Mal, wenn ich es singe, packt es mich wieder.
BAUMANN: In diesem Lied werden ganz viele Themen angeschnitten. Es ist wie ein Kaleidoskop von allem möglichen, was den Ast übergewichtig macht, auf dem die Menschheit sitzt.
HORN: Massentierhaltung, Kindesmisshandlung, Korruption...

Sie singen, wie sich die Menschheit den Ast absägt, auf dem sie sitzt. Die Musik ist dagegen heiter und beschwingt. Wieso?
HORN: Weil es dadurch vielleicht noch stärker wirkt.
BAUMANN: Und wenn die Welt so weitermacht, dann laufen wir tanzend auf die Klippe zu. Das passt also ganz gut, dass es in Gute-Laune-Manier erzählt wird.

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In "Ewige Wolke" besingen Sie die Leidenschaft der Menschen für Ihre Handys.
HORN: Wenn mich etwas an der Menschheit stört, dann die komplette Hingabe an das Handy. Wie viele Mütter schieben ihre Kinderwägen durch die Gegend, das Kind schaut raus und die Mutter auf ihr Handy? Es gibt sicher Beziehungen, in denen das Handy wichtiger ist als der Partner. Ich benutze das Handy selber, aber mit diesem Suchtverhalten habe ich ein Problem.

Gilt bei Ihren Bandproben Handyverbot?
BAUMANN: Das war noch nie ein Thema. Wenn wir proben, ist das Ding aus. Und wir sind sowieso alle Analogis. Wenn wir etwas auf der Bühne dabeihaben, dann ein Faxgerät.


Dreiviertelblut präsentiert "Plié" (Millaphon Records) am 30. Dezember um 19.30 Uhr in der Kongresshalle (ausverkauft, evtl. Restkarten an der AK); Dreiviertelblut spielen am 15. Februar, 15. März und 4. Mai im Lustspielhaus.

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