Von Nemo bis Isaak: Die Highlights des ESC 2024 in Malmö – Politik, Musik und Überraschungen
Natürlich ist der ESC unpolitisch wie eine Kochshow. Aber schon die Tatsache, dass hier Nationalstaaten gegeneinander antreten, könnte ein Hinweis sein, dass das Politische nie ganz draußen bleibt. Außerdem haben uns die Achtundsechziger gelehrt, dass es nichts Unpolitisches gibt, vor allem in hochpolitischen Zeiten wie den unseren.
Das Schöne ist, dass die vom ESC-Finale in Malmö vermittelten Botschaften letztendlich optimistisch stimmen, was gesellschaftliche Veränderungen angeht. Sieger wurde die Schweiz mit "The Code" von Nemo, einem sehr flotten Party-Song und einem perfekt auf einer drehenden Platte getanzten Auftritt. Darüber waren sich die Länder-Jurys und das Publikumsvoting per Telefon und SMS ziemlich einig.

Israel als deutscher ESC-Kandidat der Herzen
Nemo identifiziert sich als nicht-binär ("Ich fühle mich weder als Mann noch als Frau"). Und dazu kann man wie die Jury und das Publikum nur sagen: Na und?! Wenn's ihm Spaß macht? Könnte es sein, dass die Mehrheit der Leute viel entspannter mit solchen Themen umgehen, als viele Konservative und Reaktionäre, die von Gender-Themen geradezu besessen sind?
Das internationale Publikumsvoting glich manche Entscheidung der nationalen Fach-Jurys aus: etwa beim im Vorfeld favorisierten Kroaten Baby Lasagna, der ohnehin einen Sonderpreis für seinen Gaga-Namen verdient hätte. Die Jurys mochten seinen Song "Rim Tim Tagi Dim" weniger. Doch das Publikum hievte diese mediterrane Partymusik letztendlich auf Platz zwei in der Gesamtwertung.

Von den Stimmen des Publikums profitierten auch der ukrainische Mix aus Rap und Pop sowie die von den Jurys aus politischen oder unpolitischen Gründen für eher uninteressant gehaltene Ballade der israelischen Sängerin Eden Golan. Das ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Die solidarischen Gefühle mit der von Russland überfallenen Ukraine sind immer noch stark. Außerdem scheint der Aufruf in Sozialen Medien, sich mit Israel zu solidarisieren, seine Wirkung nicht verfehlt zu haben.
Buhs und Begeisterung beim "Eurovision Song Contest" in Malmö
Lautstarke Proteste gab es dagegen vor und in der Halle. Sie richteten sich gegen die Entscheidung der Veranstalter, Israel trotz des Gaza-Krieges mit bislang mehr als 30.000 toten Palästinensern antreten zu lassen, mit dem der jüdische Staat auf die von palästinensischen Terroristen am 7. Oktober in Israel verübten Massaker reagiert hat.
Als die israelische Sängerin beim Einlauf der Nationen die Bühne betrat, waren Pfiffe in der Halle zu hören. Die Buhrufe wurden noch einmal lauter, als zur Punktevergabe der israelischen Jury geschaltet wurde. Allerdings zeigte die Bildregie auch immer wieder begeisterte Besucher mit israelischer Flagge.

Das deutsche Fernsehpublikum vergab dagegen beim Televoting die Höchstpunktzahl 12 an Israel. Könnte es sein, dass viele Menschen hierzulande längst nicht so israelkritisch eingestellt sind, wie es Protest-Camps der Lifestyle-Linken an Universitäten und die lautstarken palästinenserfreundlichen Demos im Malmö und anderswo suggerieren?
Deutscher ESC-Beitrag: Isaak landet in der Mitte
Das zuletzt notorisch erfolglose Deutschland landete mit Sänger Isaak und dem Song "Always On The Run" auf dem zwölften Platz von 25 Finalisten und beendete die jahrelange Serie von letzten und vorletzten Plätzen. Der mäßig originelle Song profitierte vom starken Auftritt des 29-jährigen Sängers, der so aussieht, wie man sich im In- und Ausland einen fleißigen Deutschen aus der Provinz vorstellt. Offenbar sind wir in Europa doch nicht ganz so unbeliebt, wie hierzulande selbstkritisch geglaubt wird.

Der einzige international bekannte Star, der französische Popsänger Slimane, erreichte mit einer sentimentalen Ballade Platz 4. Ein dämonischer Song aus Irland belegte den 6. Platz. Folkloristisches aus Georgien und computergeneriert klingender Standard-Pop kam bei den Jurys und dem Publikum weniger gut an.
Sieger Nemo über den ESC: "Ein bisschen Instandsetzung"
Der entfesselte Gaudi-Auftritt aus Estland landete noch hinter dem faden britischen auf Platz 20. Am schwächsten schnitten Slowenien, Österreich und Norwegen ab. Der niederländische Teilnehmer Joost Klein wurde erst am Samstag ausgeschlossen, nachdem er einer Kamerafrau eine aggressive Geste gezeigt hatte.

Nemo zerbrach nach dem Sieg die Trophäe und bekam einen Ersatz-Preis. "Die Trophäe kann repariert werden – vielleicht braucht der ESC auch ein kleines bisschen Instandsetzung", sagte der Schweizer vieldeutig und womöglich in Anspielung auf die Buhrufe gegen Eden Golan während der Show und die Demonstrationen vor der Halle in Malmö. Dort wurde die neuerdings mit Palästina sympathisierende Klima-Aktivistin Greta Thunberg festgenommen, deren Mutter 2009 beim ESC für Schweden den 21. Platz erreicht hatte.
Tritte ins Fettnäpfchen
Verbesserungsfähig bleibt die Fernsehmoderation durch den Plapperer Thorsten Schorn. Der Kölner steuerte flache Wortwitze wie "Sloweniger wäre mehr gewesen" nach dem slowenischen Beitrag bei. Er glaubte auch, darauf hinweisen zu müssen, dass Russland ausgeschlossen sei, obwohl das ebenfalls kriegführende Israel teilnehmen dürfe. Bei aller berechtigten Kritik am Einsatz der israelischen Armee in Gaza: Die Selbstverteidigung eines demokratischen Staats sollte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht mit dem Überfall einer Diktatur auf eine Demokratie gleichgestellt werden.
Tritte ins Fettnäpfchen gehören allerdings bei Partys auch dazu. Und der ESC, den kaum jemand allein anschauen dürfte, ist vor allem eine große Party – mit politischen Diskussionen, wie es sie bei jeder Party gibt, und sei es nur bei den Rauchern vor der Türe. Und wer doch alleine feiert, den begleiten wenigstens Getränke und gelegentliche Blicke ins Internet, weil 25 Schlager am Stück anders kaum auszuhalten sind.
Beim Blick vor die Tür kann man die merkwürdigsten Leute treffen: wie etwa Paavo Järvi, der zuletzt zwei Programme der Münchner Philharmoniker dirigiert hat und den ESC auf Twitter eifrig kommentiert.

Und das bringt uns auf das Schönste dieser europaweiten Party: Auch (oder vor allem?) Menschen nehmen daran teil, die sich den Rest des Jahres keine Sekunde für Schlager interessieren. Und ja, der Autor dieses Artikels ist sich bewusst, dass auch er dabei mitgemeint ist.