Daniel Barenboim beendet seinen Schubert-Zyklus

Technische Makellosigkeit darf man von Daniel Barenboim nicht oder nicht mehr erwarten. Sonst wird man unweigerlich enttäuscht. Entsprechend kritisch wurden die ersten drei Abende seines Zyklus mit Klaviersonaten von Franz Schubert besprochen.
In allen vier Sätzen der Sonate a-moll D 845 springt schon einmal ein Finger von den Tasten ab. Da bleiben Töne weg. Im Trio des Scherzos erscheint sogar einmal ein falscher Akkord. Der 74-jährige lässt die Wiederholung des zweiten Teils, in dem ihn sein Gedächtnis offenbar ein wenig im Stich gelassen hat – Barenboim spielt auswendig –, dann einfach weg.
Lesen Sie auch unsere Kritik zum dritten Abend von Barenboims Schubert-Zyklus
Der Vielbeschäftigte, der sich mit der Zeit ja zu einem der heute bedeutendsten Dirigenten gemausert hat, nimmt soetwas, scheint es, durchaus in Kauf. Seine Interpretation insbesondere der a-moll-Sonate wirkt frei, allzu frei, wenn Pausen nicht, dafür einzelne Töne zu lang gehalten werden, vorgeschriebene Decrescendi unterbleiben, überhaupt einmal ein Forte statt eines Pianos oder ein Fortissimo statt eines Fortes ertönt.
Lesen Sie auch unser Interview mit Daniel Barenboim zu seinem Schubert-Zyklus
Dies zu bemängeln ist nicht kleinlich. Aber es wird gleichzeitig einer Musikerpersönlichkeit nicht voll gerecht, die über eine singuläre Einsicht in Schuberts Kosmos verfügt: Als Dirigent, nicht zuletzt als Liedbegleiter, der aus seiner langen Zusammenarbeit mit Sängern wie Dietrich Fischer-Dieskau nach eigener Aussage viel gelernt hat, wird Barenboim wohl jede der vielen Noten, die dieser Komponist schrieb, einmal musiziert haben.
Aus einem Guss
Die Patzer nehmen von dieser Kompetenz nichts weg, und sie wird fruchtbar, wenn der Pianist etwa im Kopfsatz ein Volumen von geradezu Bruckner’scher Wucht eröffnet oder den langsamen Satz „Andante con moto“ von seinem unschuldigen Beginn über stampfende Tanzepisoden und pathetische Zuckungen bis zum sphärischen Schluss aus einem einzigen Guss erschafft.
Und allein sein dunkel weinrot gefärbter, üppiger Klavierton ist eine Klasse für sich! Er taucht die letzte der Klaviersonaten Schuberts, die in B-Dur D 960, in einen reinen klanglichen Ästhetizismus.
Die große Entschädigung
Ohnehin kommt Barenboim mit diesem Stück besser zurecht. Die tiefen Triller im Kopfsatz wehen körperlos aus einer anderen Welt herüber, die Durchführung wird meisterlich organisch entwickelt, im Andante sostenuto entdeckt die Pedalarbeit impressionistische Klänge. Besonders in diesem tief anrührenden Seelenbild erscheint in der Philharmonie Schuberts Aura zum Greifen nah.
Andere mögen den Buchstaben zuverlässiger realisieren, den Geist des späten Schuberts trifft Barenboim präzise wie kein Zweiter. Dieser Schlusspunkt könnte selbst die bislang Enttäuschten schadlos halten.
Am 11. Mai dirigiert Daniel Barenboim Bedrich Smetanas Zyklus „Má vlast“ („Mein Vaterland“) mit den Wiener Philharmonikern im Gasteig, Karten unter Telefon 93 60 93