Interview

Christian Gerhaher im Interview: "Musik wie Körperverletzung"

Christian Gerhaher über Aribert Reimanns "Lear", Shakespeares Humor und die Initiative "Aufstehen für die Kunst".
Michael Bastian Weiß |
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Christian Gerhaher als Lear in Christoph Marthalers Inszenierung der Oper von Aribert Reimann, die am Sonntag im Nationaltheater herauskommt.
Christian Gerhaher als Lear in Christoph Marthalers Inszenierung der Oper von Aribert Reimann, die am Sonntag im Nationaltheater herauskommt. © Wilfried Hösl

München - Dass eine Oper nach der Uraufführung noch einmal am gleichen Haus neuinszeniert wird, passiert nicht alle Tage. Am Sonntag kehrt Aribert Reimanns "Lear" nach über 40 Jahren wieder auf die Bühne des Nationaltheaters zurück. Christian Gerhaher singt die Titelpartie, Christoph Marthaler inszeniert.

AZ: Herr Gerhaher, haben Sie sich die Aufnahme der Oper in der Uraufführungsbesetzung mit Dietrich Fischer-Dieskau angehört?
CHRISTIAN GERHAHER: Ich habe keine Aufnahme ganz angehört, weil ich diese Intensität beim Anhören einer CD nicht aushalte. Und wenn ich vor einiger Zeit eine Aufführung des Stückes gesehen hätte, hätte ich sicherlich Panik bekommen, weil ich mir diese Partie nicht zugetraut hätte.

Christian Gerhaher als Lear.
Christian Gerhaher als Lear. © Wilfried Hösl

Dietrich Fischer-Dieskau hatte sich das Stück gewünscht.
Man wundert sich anfänglich vielleicht über seine ziemlich freie Interpretation. Die Rhythmik ist aber auch sehr eigen, weil die Notenwerte über weite Strecken nicht genau notiert sind. Dass man sich über so etwas als Sänger irgendwann hinwegsetzt, ist verständlich.

"Das Orchester ist eine Belastung"

Aribert Reimann selbst hat gesagt, er würde eine so freie Notation heute nicht mehr wählen, weil sie bei den Proben viel Zeit für die Abstimmung kostet. Wie gehen Sie damit um?
Ich habe die Partie ziemlich gut zu lernen versucht. Dennoch schleifen sich manche Sachen ein. Wenn der Dirigent mit seiner eigenen Tempovorstellung dazukommt, wird es interessant, denn diese halb-aleatorische Notation führt meines Erachtens dazu, dass man sich als Sänger zwar an Schlägen orientiert, dass man sich aber an einen eigenen Sprachduktus mit relativ eigenem Rhythmus gewöhnt. Wir haben diesbezüglich mit Jukka-Pekka Saraste, der die Produktion musikalisch leitet, ein unglaubliches Glück. Er hört ruhig zu und achtet dann einfach geduldig darauf, dass alles zusammen kommt.

Das Orchester ist groß besetzt, Pandemiebedingt sitzen allerdings nur Streicher und Holzbläser im Graben.
Das Orchester ist eine Belastung. Das ist natürlich keinerlei Werturteil. Diese Musik ist unglaublich massiv, wie eine untergründige Körperverletzung, die man, wenn man länger geprobt hat, eigentlich irgendwann nicht mehr erträgt. Das passt aber zum Stück.

Ein Höhepunkt der Oper ist die Heide-Szene "Blast, Winde, sprengt die Backen!
Ich beginne auf einem Ton, dem "d", kann mich aber am Orchester nicht orientieren. Es spielt sehr viele Vierteltöne, also extrem feine Tonstufen zwischen den Halbtönen, und das in riesigen Cluster-Wellen. Selbst für Menschen mit absolutem Gehör ist das sehr verwirrend. Beim Üben bildet sich zwar so eine Art von halb physischem, halb psychischem Erinnern. Aber man ist da als Sänger tendenziell auch irgendwie verloren.

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Christoph Marthaler nimmt als Regisseur die Emotionen meist zurück.
Marthaler sagte von vornherein, er wolle keine psychologische Personenführung. Natürlich lehne ich Psychologie nicht ab, ein Figaro oder Don Giovanni, auch ein Tannhäuser, wären ohne Psychologie nicht möglich, zumindest nicht für mich. Aber hier ist es interessant, dass jemand sagt: Lasst doch die Psychologie nicht nach außen treten, zumindest nicht mit Gesten, und ganz besonders nicht mit bekannten Gesten. Insofern ist es ein wenig anti-theatralisch - und trotzdem großartiges Theater. Marthaler ist ein unglaublich inspirierender, leichtfüßiger, wie improvisierend führender Regisseur. Er hat dem Stück eine wunderbare Gestalt gegeben, die nicht beschwert. Ich glaube, und er auch, das kann beim Publikum zu Friktionen führen, zumindest bei den Leuten, die die volle Ladung wollen.

Komik ist auch nicht das erste, was einem bei Reimanns "Lear" einfällt.
Das Stück ist eigentlich so ziemlich ohne Humor. Da hatte Christoph Marthaler ein paar sehr schöne Einfälle. Ohne hier zu viel verraten zu wollen: Lear kommt rein und sagt einen Satz, der äußerst bekannt klingt, obwohl er ein wenig anders ist - man könnte denken, das sei ein Kalauer. Aber es wäre nur ein Kalauer, wenn es um Hamlet ginge. Hier geht es aber um Lear! Das ist irgendwie erfrischend, weil ein Kontrapunkt zu diesem tiefen Ernst der 1970er Jahre gesetzt wird. Aber es gibt in Shakespeares "Lear" eben auch viel Humor.

"Es geht nicht darum, wer ich bin, sondern was ich spiele"

Sie stehen der Oper nicht unkritisch gegenüber. War es Ihr Wunsch, die Hauptrolle zu singen?
Wem oder was steht man schon unkritisch gegenüber - außer Schumann vielleicht? Der Intendant Nikolaus Bachler kam auf mich zu und erzählte, er wolle in seiner letzten Spielzeit an der Staatsoper, Stücke zeigen, die eben dort uraufgeführt wurden: "Idomeneo", "Tristan und Isolde" und eben "Lear". Mir ist diese Rolle eigentlich zu schwer, zu monströs und zu laut. Aber man kann andererseits auch nicht alle Herausforderungen im Voraus kalkulieren, sondern lernt seine tatsächlichen Möglichkeiten erst anhand eines Stückes kennen.

Sind Sie nicht streng genommen zu jung für die Rolle?
Natürlich steht der Lear am Ende seines Lebens. Aber ab einem gewissen Alter steht man theoretisch immer am Ende seines Lebens. Insofern finde ich mich dazu auch nicht zu jung. Aber, ehrlich gesagt, ist das auch keine entscheidende Frage. Denn es geht ja nicht darum, wer ich bin und wie alt ich bin. Sondern darum, was ich hier spiele.

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Trotzdem ist das Alter ein Aspekt dieser Rolle.
Das belastet Lear. Deswegen ist er so auf Cordelia fixiert, die ihm vielleicht seine Lebenskraft wiedergeben soll. Und vielleicht kann er dann seinen Tod am Schluss auch deswegen ertragen, weil Cordelia schon vor ihm gestorben ist.

Für viele Menschen ist das Lebensende auch durch die grassierende Pandemie konkreter geworden. Das bringt uns zur Initiative "Aufstehen für die Kunst", bei der Sie sich engagieren. Worum geht es da?
Zu Beginn der Pandemie war ja unklar, was diese Krankheit bedeuten würde. Also hat sich jeder vernünftig verhalten, die Kultur war am Boden, aber vieles andere auch. Dann aber kam die Sommerpause und mit der Wiedereröffnung fing das böse Erwachen an. Die großartigen Erfahrungen, die bei den Salzburger Festspielen gemacht wurden, schienen keinen Einfluss zu haben. Stattdessen hat man diese ernüchternde Fantasie-Zahl von 200 Zuschauern erfunden. Dann kam das Pilotprojekt mit 500 Personen pro Saal, deren begleitende Studie schon sehr früh hat erahnen lassen, dass da keine Gefahr liegt. Diese Studie von der TU München, vom Bayerischen Staat bezahlt, ist aber vom Bayerischen Verwaltungsgericht in seiner Beurteilung des Eilantrags nicht als abgeschlossen erkannt worden. Das ist schon ernüchternd und ärgerlich.

"Der Kunstbegriff soll in der Verfassung eine andere Sichtweise erhalten"

Der Eilantrag wurde abgelehnt. Wie geht es nun weiter?
Die letzten Monate mit Katastrophenfall, Lockdown light und hartem Lockdown haben die Benachteiligung der Kunst gegenüber den anderen Gesellschaftsbereichen sichtbar gemacht. Deshalb haben wir auch die beiden Verfassungsklagen angestrebt, eine vor dem Bayerischen Verfassungsgericht und eine vor dem Bundesverfassungsgericht - damit wir eine Handhabe haben, wenn angesichts knapper Kassen argumentiert werden sollte: Eure Auslastungen sind so miserabel, da machen wir jetzt ganz zu. Vor einer solchen Situation muss man Angst haben, das halte ich nicht für ganz unrealistisch.

Was erhoffen Sie sich von einem Rechtsstreit?
Wir hoffen, mit einem positiven Urteil zu einer anderen Sichtweise des Kunstbegriffs in der Verfassung beitragen zu können. Die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Bayern kommen ihren Verpflichtungen gegenüber der Kunst nicht nach. Laut Verfassung ist Bayern gleichermaßen ein Kultur- wie ein Rechtsstaat. Nirgends steht, dass er ein Sportstaat ist. Es geht nicht zu sagen, dass Erbauung, Unterhaltung, Freizeitaktivität Teil der Kunst sind: Das widerspricht der Kunstfreiheit am allermeisten, dass der Staat sich herausnimmt, den Zweck der Kunst zu definieren. Das darf er nicht dürfen!


Premiere am 23. Mai, weitere Aufführungen am 26. und 30. Mai, 3., 7. Juni, wenige Rest-Karten. Die Aufführung vom 30. Mai als Livestream auf staatoper.tv.

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  • Florian Ganslmeier am 22.05.2021 18:15 Uhr / Bewertung:

    „Laut Verfassung ist Bayern gleichermaßen ein Kultur- wie ein Rechtsstaat. Nirgends steht, dass er ein Sportstaat ist. Es geht nicht zu sagen, dass Erbauung, Unterhaltung, Freizeitaktivität Teil der Kunst sind: Das widerspricht der Kunstfreiheit am allermeisten, dass der Staat sich herausnimmt, den Zweck der Kunst zu definieren. Das darf er nicht dürfen!“

    Demnach sind Restaurants, Fußballstadien, der Viktualienmarkt oder das Müller‘sche Volksbad keine Bestandteile unseres „Kulturstaats“. Sondern allein die hohe Kunst, die sich durch Zweckfreiheit definiert. Dieses Verständnis von Kultur ist für mich hochproblematisch in seiner Arroganz und seiner Burghofmentalität. So wenig der Staat den Zweck der Kunst definieren darf, so wenig steht es uns zu, den Kunstformen, für die wir eintreten, einen Alleinvertretungsanspruch für die Kultur zuzuschreiben. Wir sind doch keine „Kunstpolizei“, die bestimmen könnte, was zur Kultur einer Gesellschaft gehört und was nicht.

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