Mariss Jansons und das BR-Symphonieorchester mit einem neuen Mitschnitt der Fünften von Schostakowitsch
München - Er liebte diese Musik. Das Schaffen von Dmitri Schostakowitsch zählte zu den besonderen Spezialitäten von Mariss Jansons. Seine Gesamtaufnahme der Symphonien des russisch-sowjetischen Komponisten, erschienen 2006 bei EMI und realisiert mit acht Orchestern, zählt zu den Meilensteinen der Interpretationsgeschichte.
Dabei profitierte der vor einem Jahr verstorbene Chefdirigent des BR-Symphonieorchesters auch von seiner Arbeit als Assistent von Jewgeni Mrawinski in Leningrad, heute St. Petersburg. Durch den großen Dirigenten hatte er die Welt Schostakowitschs vermittelt bekommen, gewissermaßen aus erster Hand, denn: Viele Symphonien hatte Mrawinski uraufgeführt, so auch die Fünfte in d-Moll op. 47 von 1937.
Wie sehr Jansons bei Schostakowitsch grundsätzlich auf den Spuren von Mrawinski wandelt, zeigen seine Interpretationen dieses Werks. Noch dazu offenbart sich in manchen Details eine staunenswerte Kontinuität seiner Sicht. Genau das verraten die Einspielungen der Fünften, die Jansons mit den Wiener Philharmonikern für die Gesamtaufnahme realisiert hat sowie 2014 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Beides sind Live-Mitschnitte, der Letztere ist kürzlich bei beim Eigenlabel des Senders.
Hetzartikel gegen Schostakowitsch
Siebzehn Jahre trennen beide Aufnahmen. Was sie eint, ist eine ähnliche Tempowahl. Sie geht auf Mrawinski zurück, allerdings auf den Dirigenten der späteren Jahre. Früher nämlich hatte Mrawinski die Tempi in der Fünften insgesamt rascher genommen als später: allen voran in der bombastischen Final-Apotheose. Angstvoll stottern die Streicher immerzu das A, noch verstärkt durch das metallisch stechende Klavier. Die Trompeten schmettern Fanfaren bis in gequälte, grellste Höhen, und die Pauken fixieren stupid immerzu die Grundtonart. Am Ende poltert zusätzlich noch die Große Trommel.
In den von Solomon Volkov aufgezeichneten "Schostakowitsch-Memoiren", erstmals veröffentlicht Ende der 1970er Jahre in Volkovs amerikanischem Exil, ist von "Jubel unter Drohung" die Rede. Natürlich wusste das auch Jansons. Mit Volkov besuchte er eine Klasse an der Spezial-Musikschule des Petersburger Konservatoriums und war mit ihm befreundet. Auf Nachfrage betonte Jansons 2008, dass Volkov "kein Lügner oder Fälscher" sei. "Dass Schostakowitsch unter den Sowjets gelitten hat, steht fest. Das ist ja der wesentliche Punkt in dem Buch."
Ob und in welchem Ausmaß der "Jubel unter Drohung" in der Fünften hörbar wird, das entscheidet auch das Tempo. In seinen frühen Interpretationen wählte Mrawinski hier ein schnelleres Zeitmaß: auch um Schostakowitsch zu schützen. Wer nämlich das Tempo reduziert, relativiert den Jubel und betont die Drohung. Mit seiner Fünften musste sich der 30-jährige Schostakowitsch 1937 jedoch rehabilitieren. Mit Hetzartikeln gegen Schostakowitsch startete im Januar 1936 die "Große Kulturrevolution" des Diktators Josef Stalin. Sie ging mit Stalins "Großem Terror" einher.
Neue Gesamtausgabe schreibt langsameres Zeitmaß vor
Bei der Moskauer Erstaufführung der "Fünften" 1938 saß auch Kurt Sanderling im Saal. Der 2011 verstorbene deutsch-jüdische Dirigent war vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet, um in Moskau die Säuberungen mitzuerleben. Sanderling war es, der bei einer Aufführung der Fünften Anfang der 1950er Jahre, noch vor dem Tod Stalins, das Tempo in der Finalapotheose erstmals deutlich verlangsamte. Schostakowitsch war zugegen und soll hinterher laut Augenzeugen geflüstert haben: "Endlich die Wahrheit!"
Für seine Deutung wurde Sanderling offiziell massiv attackiert. Ähnlich wie Sanderling hat später auch Mstislaw Rostropowitsch das Tempo im Finale der Fünften gedehnt. In der alten sowjetischen Schostakowitsch-Gesamtausgabe ist ein rascheres Tempo vorgegeben. Die neue Gesamtausgabe schreibt auf Grundlage der Originalskizzen ein langsameres Zeitmaß vor.
Jansons erzählt Geschichte
Was ist nun Wahrheit und Dichtung? Für Jansons ist das alles nicht entscheidend. Er wählt insgesamt ein flüssigeres Tempo, ohne jedoch die Drohung zu glätten - im Gegenteil. Mit dem BR-Symphonieorchester gelingt ihm eine Durchdringung der Farben, wie sie nicht deutlicher sein könnte. Gerade im Vergleich zu Valery Gergiev, fraglos ebenso ein gewichtiger Schostakowitsch-Exeget, verzichtet Jansons auf jedwede Betonung von Effekten. Nichts wird forciert, alles glasklar entschlackt, um den Horror umso plastischer zu verlebendigen.
Ob die bedrohlichen Militärmärsche im ersten Satz, der bitter-böse, groteske Dreierschritt im Scherzo oder der weltentrückte Abgesang im langsamen Satz: Jansons erzählt Geschichte. "Die Politik kann man von der Musik trennen, aber nicht die Geschichte", bekannte er 2008 auf Nachfrage. "Man muss Assoziationen wecken", und das gelingt ihm mit der BR-Truppe mustergültig. Sie spielen die Wiener Philharmoniker buchstäblich an die Wand: ein starkes Vermächtnis.
Dmitri Schostakowitsch: Symphonie Nr. 5, BR-Symphonieorchester, Mariss Jansons, bei BR Klassik