AZ-Kritik zu München-Konzert von Bruce Springsteen: Kraftvoller und lauter Rock’n’Roll
Die E Street Band gibt es jetzt seit 50 Jahren. Wie könne das eigentlich sein, sagt Bruce Springsteen verschmitzt und wie nebenbei, wenn er selbst doch erst 45 sei? Und auch abseits dieser Pointe stellt der Boss an diesem Sonntagabend im Olympiastadion die Prinzipien von Zeit und Alterungsprozess infrage: Wie, bitte schön, kann ein fast 74-jähriger Mann eine solche Show hinlegen? Zumal wenn er schon seit Monaten auf Tour ist?
Bruce Springsteen in München: Fast drei Stunden Dauer-Show
Schon fünf Minuten vor dem angekündigten Beginn um 19 Uhr sagt er „Gruß Gott“, zählt ein und eröffnet mit „No Surrender“ sein erstes Münchner Konzert seit sieben Jahren. Noch sind gar nicht alle Leute auf ihren Plätzen, doch der Boss hat das ausverkaufte Stadion schon im Griff. Wir haben mehr von einer drei Minuten langen Platte gelernt, Baby, singt er da zum Auftakt programmatisch, als wir jemals in der Schule gelernt haben. Sein Show-Beginn hat freilich nicht die Länge einer Drei-Minuten-Single, sondern einer Doppel-LP. Mit dem Schlussakkord von „No Surrender“ zählt er „Ghosts“ ein, und so geht das weiter: Die ersten acht Songs gehen atem- und wortlos ineinander über, 55 Minuten lang.

Für die kleinen Fans lässt Bruce Springsteen halbe Strophen aus
Währenddessen haut Springsteen bei „Prove It All Night“ ein wildes Gitarren-Solo in seinem metallisch-schrillen Telecaster-Sound raus, macht das Publikum bei „Out In The Street“ zum Partychor, spielt das Intro zu „Darlington County“, schert kurz in Richtung „Honky Tonk Women“ aus, das den gleichen Beat hat, um dann doch seinen eigenen Gute-Laune-Song anzustimmen. Bei „The Promised Land“ schreitet er von der Bühne herab zur ersten Reihe, spielt Mundharmonika und schenkt das Instrument dann einem ungefähr siebenjährigen Mädchen, das auf Papas Schultern sitzt. Eine Viertelminute lang sieht man auf der Großleinwand ein Kind, das sein Glück nicht fassen kann. Aber der Boss geht auch nicht leer aus: Als er einem Teenager- Mädchen ein Plektrum überreicht, revanchiert sich dieses mit ein paar Süßigkeiten.

Beschenkt werden auch die Hardcore-Fans: Nach sieben kerzengeraden Stadionrock-Nummern spielt Springsteen das ausgedehnte Gitarren-Intro zu „Kitty’s Back“, einer abgefahrenen Nummer zwischen R&B, Jazz und Rock von „The Wild, The Innocent & The E Street Shuffle“, dem Album von 1973, auf dem seine Begleiter erstmals als E Street Band firmierten. Die Sätze der Bläser sind gewollt schrill, sie und Organist Charles Giordano können in kurzen Soli ihre Virtuosität entfalten, und ständig nimmt der wilde Song neue Wendungen. Liebhaber des frühen, dem Mainstream und Erfolg noch fernen Springsteen können da in Entzückung geraten, während die Zuschauerin nebenan fragt: „Ist das immer noch das gleiche Lied?“ Derweil dirigiert Bruce die Seinen wie eine swingende Big Band – tatsächlich ist die legendäre E Street Band mit eineinhalb Dutzend Musikern, Sängerinnen und Sängern inzwischen zur Orchesterstärke angewachsen.
In ganz seltenen Momenten kämpfen sie rhythmisch mit den Schwierigkeiten des verhallten Stadionsounds, außerdem ist das Schlagzeug des sagenhaften Max Weinberg oft zu leise. Ansonsten haben sie den bekannten Wumms, und vor allem: Solche Details sind an diesem Abend völlig wurscht. Denn Springsteen legt einen Zauber über das Stadion. Dank seines Charismas, dank seines Charmes, dank seiner einmaligen Entertainer-Fähigkeiten. Die sind ungebrochen, auch wenn er nicht mehr von einer Bühnenseite zur anderen saust. In Bewegung ist er dennoch fast ununterbrochen, und er röhrt so kraftvoll wie früher – zweieindreiviertel Stunden lang und ohne Verschleiß: Als er kurz vor Schluss seine Musiker in ekstatischer Predigermanier vorstellt, würde man ihn wohl auch ohne Mikro überall im Stadion hören. Spätestens da fragt man sich: Herrschen in der E Street andere physikalische Gesetze als im Rest der Welt?

Der Boss zum Publikum: "Seid gut zu Euch selbst"
Doch inmitten dieses ewigjugendlichen Freudenfestes wird Springsteen nachdenklich. Da gedenkt er seines Jugendfreundes George Theiss, der vor einigen Jahren als letzter Kollege seiner ersten Band The Castiles starb. An seinem Sterbebett sei ihm bewusst geworden, wie wichtig es sei, jeden einzelnen Tag zu nutzen, der ihm noch bleibe. Und bevor er dann zur Akustikgitarre traurig besingt, der „Last Man Standing“ seiner Jugendband zu sein, rät er den Zuschauern: „Seid gut zu Euch selbst, seid gut, zu denen, die Ihr liebt – und zu der Welt, in der wir leben.“
Bei ersterem Punkt darf jeder ein Häkchen setzen, der für dieses Konzert Karten gekauft hat. Springsteen überwältigt die Zuschauer mal wieder, spätestens mit der fulminanten Schlussnummer „Badlands“ und den ersten Nummern des ausgedehnten Zugaben-Teils: mit dem Jahrhundertsong „Born To Run“, mit dem zu Tränen rührenden „Bobby Jean“, mit der Partynummer „Glory Days“, bei der er mit seinem ewigen Consigliere Steve Van Zandt eine urkomische Comedynummer hinlegt: Überdreht kabbeln sie sich über die Frage, ob es jetzt nicht mal Zeit wäre heimzugehen. Steve bleibt hart, der Boss gibt nach, weiter geht’s mit „Dancing In The Dark“ und „Tenth Avenue Freeze-Out“.

Zum Schluss schnappt sich Springsteen die Akustikgitarre
Da schreitet Springsteen ein letztes Mal die erste Reihe ab und steht plötzlich wieder vor einem begeisterten kleinen Mädchen, das auf seines Vaters Schultern sitzt. Und was macht der Weltstar, der im vergangenen Jahr erstmals Großvater geworden ist? Er umarmt das Kind einfach, ganz lang und herzlich, und lässt dafür eine halbe Strophe lang den Gesang ausfallen.
Nach der Nummer verbeugt sich die E Street Band, Springsteen schnauft theatralisch mit offenem Mund, klatscht sämtliche Musiker ab und verabschiedet sie in den Feierabend. Das Flutlicht, das während der Zugaben leuchtete, geht aus, und erstmals an diesem noch immer nicht späten Abend wird es ganz dunkel im Olympiastadion. Bruce Springsteen hängt sich die Akustikgitarre um und besingt in dem letzten Stück „I’ll See You In My Dreams“ noch mal seinen verstorbenen Freund George Theiss. Der fast 74-Jährige reflektiert in diesem Konzert die Endlichkeit und feiert ekstatisch das Leben: ein schlüssiger Abend.
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