Münchner Kultur in der Corona-Krise: Die Bildschirmkünstler
München - Über 4.500 Zuschauer hatte die Übertragung der Operette "Viktoria und ihr Husar" von Paul Abraham, die das Gärtnerplatztheater am vergangenen Wochenende auf seiner Homepage zeigte. Ursprünglich war zur gleichen Zeit eine Serie von sechs Vorstellungen geplant, die im 800 Plätze fassenden Theater etwa die gleiche Zahl an Besuchern erreicht hätte.
Image- und Markenwerbung durch Web-Stream
Natürlich ist das nicht wirklich vergleichbar, zumal die Besucher für den Stream nichts bezahlen mussten. Aber auch als Image- und Markenwerbung zahlt sich ein solcher Stream aus. Denn Josef E. Köpplingers Inszenierung wurde nicht nur in München gesehen, sondern auch auswärts: "Viktoria und ihr Husar" hatte auch viele Zugriffe aus Ungarn, was angesichts der patriotischen Anwandlungen dieser 1930 in Budapest aufgeführten Operette nicht überrascht.
Mit einem Kammerkonzert erreichte das Gärtnerplatztheater kürzlich beachtliche 711 Zugriffe, die "Drei Männer im Schnee" an Silvester erreichte sogar 30.000 Endgeräte mit wahrscheinlich mehr als einem gut gelaunten Zuschauer. Als Faustregel formuliert der Pressesprecher Roman Staudt: Was an der Kasse zieht, läuft in ähnlicher Weise als Stream. Auch der Versuch, die Online-Aktivitäten in klingende Münzen zu verwandeln, kann funktionieren. Die Bayerische Staatsoper überträgt zwar ihre Montagskonzerte und Premieren seit Beginn des zweiten Lockdowns weiter gratis. Zu einem späteren Zeitpunkt kosten die Streams bis zu 15 Euro.
Online deutlich mehr Zuschauer, als das Nationaltheater Plätze hat
Die Aufführungen aus dem Nationaltheater sehen erheblich mehr Leute, als das Haus Plätze hat: Am Montag hatte der Stream des Bayerischen Staatsorchesters unter Zubin Mehta 15.000 Zugriffe, bei "La Bohéme" mit Jonas Kaufmann waren sogar 50.000 Geräte online. Aber auch die "Eight Songs for a Mad King" von Peter Maxwell Davies, die unter normalen Bedingungen vielleicht 200 Zuschauer in den Rennertsaal gelockt hätten, kamen online auf ein volles Nationaltheater.
Auch die teilweise kostenpflichtigen Streams der Kammerspiele und des Residenztheaters haben eine beachtliche Reichweite. Für die Stream-Premiere von "Gespenster" in der Therese-Giehse-Halle wurden 700 Karten verkauft. Juliane Köhler war mit dem Monolog "Niemand wartet auf dich" auf 565 Bildschirmen gegenwärtig. Und wer das halbe Tausend angesichts der Zahlen aus dem Nationaltheater mickrig findet, dem sei gesagt: Juliane Köhler spielt live, und sie würde im Marstall pro Vorstellung sonst nur 140 Besucher erreichen können.
Münchner Theater europaweit: Zuschauer in Wien, Athen oder Istanbul
"Unsere Zuschauer mögen einen festen Spielplan", sagt die Sprecherin und stellvertretende Intendantin Ingrid Trobitz. Sie höre immer wieder von Besucherinnen und Besuchern, die sich bei einem Glas Rotwein zu einem festen Zeitpunkt träfen, um die Aufführung zu verfolgen und anschließend darüber zu diskutieren. Daher ist davon auszugehen, dass vor jedem Bildschirm mehrere Zuschauer sitzen. Auch das Staatsschauspiel wird außerhalb Bayerns gesehen: Trobitz weiß von Zuschauern in Wien, Athen oder Istanbul, die auf diese Weise Kontakt mit München halten.
Das Online-Angebot des Bayerischen Staatsschauspiels, zu dem auch Aufzeichnungen und Podcasts gehören, ist im Prinzip gratis. Aber es gibt die Möglichkeit, Karten zu erwerben - bis zum Solidaritätsbeitrag von bis zu 100 Euro. Dieses Angebot werde insbesondere von Abonnenten angenommen, so Trobitz. Mit den Einnahmen baut das Theater seine im Vergleich bisher unterbesetzte Video-Abteilung aus und kaufe die notwendige technische Ausrüstung an.
Auch beim Gärtnerplatztheater werden die Streams hausgemacht. Die Bayerische Staatsoper arbeitet mit einer externen Firma, die schon seit Jahren die Premieren-Livestreams aufnimmt. Der für Staatsoper.tv verantwortliche Pressesprecher Christoph Koch denkt derzeit darüber nach, wie man die Streams auch künstlerisch durch veränderte Perspektiven weiterentwickeln könnte, um vom bloßen Abfilmen einer Aufführung wegzukommen.
Literaturhaus glaubt an Weiterentwicklung der Veranstaltungsform
Streams gibt es auch aus dem Literaturhaus, wo ein (kostenloser) Dürrenmatt-Abend zuletzt 550 Zugriffe hatte. Bei kostenpflichtigen Streams sind etwa so viele Endgeräte in Betrieb, wie der Saal im dritten Stock Plätze hat: rund 300. "Aber ehe man aus diesen Zahlen schließt, dass wir gar nicht so pandemiegebeutelt sind, sei angemerkt: Ein Stream-Ticket kostet 5 Euro statt 15 Euro Eintritt", sagt die Literaturhaus-Sprecherin Marion Boesker von Paucker. "Die Technik für das Streaming verursacht zusätzlich zu den normalen Honoraren enorme zusätzliche Kosten pro Veranstaltung." Boesker von Paucker und das Literaturhaus glauben aber an die Weiterentwicklung dieser Veranstaltungsform und an eine Verbindung aus analog und digital. Allerdings, so Boesker von Paucker, "die Energie in einem Raum, in dem Menschen miteinander etwas erleben - die ist nicht ersetzbar."
Streams funktionieren besser bei der Hochkultur
Das dürfte auch der Grund sein, wieso Streams bei der sogenannten Hochkultur offenbar besser funktionieren. Der Isarindianer Willy Michl, der am ersten Weihnachtsfeiertag traditionell im ausverkauften Lustspielhaus spielt, konnte online lediglich 37 Karten verkaufen und geht von rund 100 Zuschauern aus. Der DJ Thomas Bohnet hatte mit seiner Sonderausgabe der "Tour de France" Mitte Januar im Ampere sehr gute 1800 Aufrufe zwischen 21 Uhr und 2 Uhr nachts. "Meist zwischen 250 und 280 Leute tanzten in Berlin, München und Zürich, Hamburg und Köln, Konstanz, Guatemala City und anderswo bis fast 2 Uhr mit", schrieb er auf Facebook.
Die Münchner Philharmoniker bewegen sich bei ihren wöchentlichen Streams regelmäßig "im hohen vier- oder niedrigen fünfstelligen Bereich, vereinzelt gibt es auch deutliche Ausschläge nach oben", wie ihr Sprecher und Managementdirektor Christian Beuke mitteilt. Das Orchester der Landeshauptstadt vermarktet die Mitschnitte außerdem auf Klassik-Plattformen und Pay-TV-Sendern - als langfristige Strategie, um international im Gespräch zu bleiben. Insofern ist es unverständlich, dass der Bayerische Rundfunk mit den Streams seines Symphonieorchesters aus Kostengründen pausiert und attraktive Konzerte mit Zubin Mehta oder Daniil Trifonov nur im Hörfunk sendet.
Das Gärtnerplatzorchester geht am Sonntag wieder online: Unter dem Chefdirigenten Anthony Bramall spielt es Glucks "Don Juan"-Ballettmusik, Jutta Speidel liest Lorenzo da Ponte, Tirso de Molina, Christian Dietrich Grabbe, E. T. A. Hoffmann und Molière. Livestream am Sonntag, 31. Januar, ab 19 Uhr auf www.gaertnerplatztheater.de.