Diskrete Annäherung: Die Fotografien von Barbara Niggl Radloff im Stadtmuseum
Zwischen den beiden Aufnahmen liegen Welten: Einmal schaut Hannah Arendt ziemlich reserviert, ja professoral ernst, wie man das 1958 auf einem Kulturkritikerkongress im Kreis von Max Horkheimer, Erich Kuby oder Marion Gräfin Dönhoff eben getan hat. Zugleich wirkt sie auch wieder ein klein wenig unsicher, als wüsste diese hoch kritische politische Denkerin nicht so recht, ob sie ihrem Gegenüber trauen kann. Dann aber lacht sie auf einmal so herzlich und gradheraus offen, dass man sich unwillkürlich fragt, welche Version nun gestellt ist? Oder eher: wer oder was diese Frau geknackt hat?

Man kann Barbara Niggl Radloff nicht mehr befragen, die Münchner Fotografin ist 2004 verstorben, und erst in den letzten Jahren wurde ihr Werk eingehender untersucht - 2018 kam der Nachlass als Schenkung ans Münchner Stadtmuseum. Dort hat sich Max Westphal durch 2.500 Schwarzweiß-Abzüge gewühlt und mit Sammlungsleiter Ulrich Pohlmann eine so sehenswerte wie informative und obendrein äußerst geschmackvoll gestaltete Ausstellung konzipiert.
Die Gabe, die Scheu zu nehmen
In dieser Rundumschau zeigt sich dann auch, dass die Arendt kein Einzelfall war, sondern Barbara Niggl eine besondere Gabe hatte, Menschen die Scheu zu nehmen, sie zu öffnen und ihnen gleichermaßen die Privatheit zu lassen. Der Cobra-Maler Asger Jorn zum Beispiel hat den Kragen zwar hochgeschlagen, aber sein Blick ist keineswegs abweisend. Heinrich Böll sieht erwartungsvoll gen Himmel, und Annette Kolb kratzt sich in ihrer kultivierten Altdamenhaftigkeit ungeniert die Wange. Als sei niemand außer ihr im Cuvilliéstheater. Und Günter Grass, den Niggl 1958 in Paris vor die Kamera bittet, kehrt den erstaunlich geduldigen Papa hervor.

Apropos Kamera: Die Rolleicord, die man vor der Brust hält, ist das Werkzeug ihrer Wahl. Kein Apparat verstellt das Gesicht, der Augenkontakt reißt nie ganz ab, und doch kann Niggl von oben einen prüfenden Blick auf den Bildausschnitt werfen. Sie wahrt freilich Distanz, die paparazzohafte Aufdringlichkeit ist partout nicht im Sinne der leidenschaftlichen Fotoreporterin.
Aufträge in Rom, Tel Aviv, Moskau
Nach ihrer Ausbildung am Münchner Institut für Bildjournalismus - der Abschluss erfolgt 1957 als "herausragend begabte Schülerin" - arbeitet Niggl für Zeitschriften wie die "Scala International", die "Münchner Illustrierte" oder die bis heute unfassbar freche Jugendzeitschrift "Twen". Das beschert ihr Modestrecken mit Veruschka und Reportagen mit dem erst 20-jährigen Bayreuth-Shootingstar Anja Silja ("Senta mit Sex") oder der Balletttänzerin Konstanze Vernon. Das führt sie aber auch nach Rom, Tel Aviv oder Moskau, wo Niggl weniger die klassischen Motive als vielmehr unterhaltsame Nebensächlichkeiten sucht. Eine Nonne etwa mit ihren enervierten Zöglingen, eine lässige Soldatin, ungleiche Paare und immer wieder Kinder.

Wegen der eigenen hat sie sich dann lange zurückgezogen - eine typische Frauenkarriere im 20. Jahrhundert. In Feldafing, wo sie mit der Familie wohnt, entwickelt sich allerdings eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Künstlerhaus Villa Waldberta und ihren Gästen. Da ist Barbara Niggl wieder in ihrem Element. Leiko Ikemura setzt sie hinter Lichtschleifen, Zoë Jenny blinzelt in die Sonne, und Thea Dorn gibt willig die Blasierte. Immer findet Niggl einen eigenen Dreh, mal spielt die Umgebung mit hinein, mal dominiert ein einziges Gesicht - von Imre Kertéz oder Joseph Beuys. Jedes Porträt ist besonders, deshalb wird diese Schau einfach nicht langweilig.
"Vertrauliche Distanz. Fotografien von Barbara Niggl Radloff 1958-2004" bis 20. März 2022 im Stadtmuseum, Di bis So 10 bis 18 Uhr, Katalog (Schirmer/Mosel) im Museum 29,80 Euro, im Handel 39,80 Euro; Zugang mit 2G plus.
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