Ausstellung von Comic-Autor Gerhard Seyfried im Valentin-Karlstadt-Musäum in München: Anarchie und Spontizeit
Angesichts der fast andachtsvoll im Münchner Valentin-Karlstadt-Musäum präsentierten Titelbilder des unvergessenenen Münchner Alternativ-"Blatts" kann man sich nostalgische Gefühle kaum verkneifen.
Hat doch dieses zwischen 1973 und 1984 in 274 Ausgaben erschienene Münchner Stadt- oder Statt-Magazin das urbane Leben der aktiven Szene dieser Großstadt in vielerlei Hinsicht geprägt – etwa mit dem beliebten Veranstaltungskalender und dem legendären, häufig von "der Säzzerin" frech kommentierten Kleinanzeigenteil, der auch der unkonventionellen Partnersuche diente.
Münchnes alternative Stadtzeitung "Blatt": Ebay, Tinder, Grindr in einem
Diese erste westdeutsche alternative Stadtzeitung gilt heute als absichtlich etwas schäbig aufgemachter Prototyp und viel kopiertes Vorbild der späteren kommerzielleren Stadtmagazine.
Es begriff sich als publizistische Plattform der undogmatischen Linken und Alternativen und war dabei auch noch so etwas wie analoges Ebay, Tinder, Grindr und IN-München in einem. Man sah sich als Organ einer Gegenöffentlichkeit, als Sprachrohr derjenigen, die keinen Zugang zu etablierten Medien hatten.
"Peng!-Preis" für das Lebenswerk von Gerhard Seyfried
Und man nahm kein Blatt vor den Mund, sodass es zu zahlreichen Strafverfahren kam. Blatt No. 79 wurde sogar auf den Index gesetzt und am Kiosk beschlagnahmt.
Mittendrin und einer seiner bekanntesten Mitarbeiter war der Zeichner und Comicautor Gerhard Seyfried, dessen Schaffen sich die Museums-Schau nun widmet. Beim Comicfestival von 2021 wurde der 1948 in München geborene Seyfried, der wegen zahlreicher Hausdurchsuchungen und diverser Festnahmen 1976 ins – fürs Erste kaum bessere – Berlin emigrierte, mit dem "Peng!-Preis" für für sein zeichnerisches Lebenswerk ausgezeichnet. Dieser renommierte Comic-Preis ist mit dieser jetzt nachfolgenden Ausstellung im Isartor verknüpft.
Ausstellung im Isartor taucht in längst vergangene Zeiten ein
Und die lässt uns erstmal in eine längst vergangen anmutende Zeit eintauchen. Man sprach von Bullen und Freaks, die sich von ganzem Herzen hassten.
Man kleidete sich ungepflegt, ließ sich Bärte und lange Haare wachsen, träumte von der Weltrevolution, einer besseren Welt und verachtete lustvoll das Drogen verabscheuende und sich in dauerhaften Zweierbeziehungen quälende Establishment. Dies alles wird in den Kreationen von Seyfried lebendig. Das alles wird zum Thema seiner Karikaturen.
So nahm er mal das Wort "Beziehungskiste" wörtlich und zeichnete eine Art Schnittmuster mit dem Titel: "Wir basteln uns eine Zweier-Kiste". Dieses findet sich in seinem ersten Comicband mit dem Titel "Wo soll das alles enden", der aus 1001 "Blatt"-Karikaturen komponiert wurde und laut Untertitel "1 kleiner Leitfaden durch die Geschichte der undogmatischen Linken" ist.
Viele Blätter von damals faszinieren noch heute
So bezeichnet man ihn auch gerne als Chronisten der links-alternativen Szene, also der Spontis, Kiffer und Spaßguerilleros. Aber auch heute faszinieren noch viele Blätter.
Unvergessen ist eine vielfach variierte Zeichnung von zwei nebeneinander stehenden Imbissbuden, über denen zum einen "Bulletten", zum anderen "Freakadellen" steht.
Davor stehen die passenden Figuren, die sich argwöhnisch beäugen. Also zwei kräftige, dunkelfarbig uniformierte Polizisten mit Knollennasen und dünne, ultracool bunt gekleidete Alternative ebenfalls mit Knollennasen.
Sie essen – und da offenbart sich etwa Seyfrieds sympathischer Humor - absolut identisch aussehende Fleischpflanzerln in angebissenem Zustand.
Die hohe Kunst von Gerhard Seyfried: sich über alles lustig machen, aber menschlich bleiben
Sich über alles lustig machen, dabei nicht bissig werden sondern menschlich bleiben – das muss man können. Seyfried gelingt es grundsätzlich. Bei ihm, der eine riesige internationale Polizeistern-Sammlung besitzt, fragen wohl nicht zuletzt deshalb heute (noch) Polizisten nach Plakaten mit den Knollennasigen.
Seine kuriosen Wortspiele und genialistischen Buchstaben-Verdrehereien trafen den Nerv der Zeit. Gutes Beispiel ist etwa der Cartoon-Titel "Pop! Stolizei". Da vereinigen sich Wortwitz, Provokation und Kreativität. Genauso bei dem 1996 entstandenen Band "Hanf im Glück".
Gerhard Seyfried wird politisch – und gestaltet Wahlplakate für Hans-Christian Ströbele
Aber die Comics sind nur eine Facette in Seyfrieds Schaffen. Mit Wimmelbildern griff er etwa für den lange Zeit einzigen direkt gewählten Grünen Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele (1939-2022) aus Kreuzberg-Friedrichshain ins politische Geschehen ein.
Ab 2001 gestaltete er für ihn knallbunte Wahlplakate. Eines greift das bekannte Revolutionsgemälde von Delacroix von 1830 auf. Der Titel: "Die Freiheit führt das Volk". Ströbele stürmt mit einer Regenbogenflagge voran, auf der "Entwaffnet die Finanzmärkte" steht. Das Volk folgt.
Auch deutsche Kolonialgeschichte interessierte Gerhard Seyfried
Auch stilistisch und maltechnisch experimentiert Seyfried gerne. "So malte er etwa "Bulle in Öl mit Ei" in Öl auf Uniformtuch. Auch testete er immer wieder Buntstifte auf schwarzem Karton. Auch das darf man durchaus politisch deuten.
Mit den Jahren schrieb er sogar – das zeigt der Blick in die Devotionalienvitrine – seriöse Bücher, Romane, basierend auf deutscher Kolonialgeschichte. Für "Herero" (2003) recherchierte er in Namibia. Im Spionageroman "Verdammte Deutsche" (2012) widmet er sich dem deutsch-englischen Wettrüsten vor dem Ersten Weltkrieg.
Bis 11. Juli 2023, Öffnungszeiten: Mo, Di, Do, Fr, Sa, 11.01 - 17.59, So ab 10.01 Uhr, www.valentin-musaeum.de
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