"Summer of Soul": Das vergessene musikalische Großereignis
Das Woodstock-Festival kennt jeder. Doch wer hat jemals vom "Schwarzen Woodstock" gehört? So wurde das Harlem Cultural Festival nachträglich genannt, das zwischen Juni und August 1969 an sechs Wochenenden im afroamerikanisch geprägten Stadtviertel von Manhattan stattfand, also nur rund hundert Meilen entfernt vom berühmten Hippie-Festival.
Die schwarzen Musiker, die in Harlem auftraten, waren künstlerisch mindestens gleichwertig, und die Zahl der fast ausschließlich schwarzen Zuschauer lag mit insgesamt 300.000 ähnlich hoch. Doch während Woodstock durch den gleichnamigen Kinofilm ikonisiert wurde, die Bilder immer neuen Generationen, auch im Schulunterricht, gezeigt wurden und das Festival zum Inbegriff der - weitgehend weißen - Gegenkultur wurde, versanken die Aufnahmen des Harlem Cultural Festivals in der Versenkung. Und die Konzerte in Vergessenheit.
"Schwarzes Woodstock" wurde erst kaum beachtet
Dabei hatte der 2017 verstorbene Hal Tulchin umfangreich gefilmt. Doch trotz seiner Marketing-Idee, das Festival als "Schwarzes Woodstock" anzupreisen, zeigte sich die Film- und Fernsehbranche total gleichgültig: Niemand interessierte sich für eine schwarze Show.
Dann gelangten die Bänder an Ahmir "Questlove" Thompson: Der wurde als Drummer der Hip-Hop-Band The Roots berühmt, schrieb als Essayist Texte zur schwarzen Popkultur - und hat nun als Regiedebütant aus den Aufnahmen von 1969 einen fulminanten Dokumentarfilm gemacht. "Summer of Soul" gewann auf dem Sundance Film Festival 2020 den Publikumspreis sowie den Großen Preis der Jury und kann jetzt bei Disney+ gesehen werden.
Stevie Wonder am Schlagzeug
Das lohnt sich allein wegen der Musik: Der 19-jährige Stevie Wonder spielt erst ein sagenhaftes Schlagzeug-Solo und später noch verrückt-brillanter auf dem Clavinet samt Wah-Wah-Pedal. David Ruffin singt "My Girl" mit entrücktem Himmelsfalsett. Sly & The Family Stone jammen erst ganz entspannt, um den Gitarristen Zeit zum Stimmen zu geben, dann bricht der groovige Funk-Rock los.
"Summer of Soul" vermittelt, wie vielseitig die schwarze Musik Ende der Sechziger war: mit dem Blues von B.B. King, dem Jazz von Max Roach, dem Motown-Soul von Gladys Knight & The Pips, dem Pop von The Fifth Dimension, die Songs aus "Hair" zu Hits machten, und mit Gospel: Diese ekstatische Musik zum Mitmachen sei die "Therapie für den Stress und Druck der Schwarzen in Amerika" gewesen, sagt ein Zeitzeuge im Film: "Wir gingen nicht zum Psychiater, lagen nicht auf der Couch. Wir wussten nichts von Therapie, aber wir kannten Mahalia Jackson."
Im Hintergrund herrscht eine explosive gesellschaftliche Atmosphäre
Diese und Mavis Staples singen im Film mit unendlicher Stimmgewalt "My Precious Lord". Doch andere schwarze Musik der späten Sechziger diente gerade nicht Stressabbau und Kompensation, sondern der Emanzipation: Sie lieferte dem Kampf um gesellschaftliche Gleichberechtigung den kraftvollen Soundtrack und brachte das gewachsene Selbstbewusstsein der unterdrückten Bevölkerung zum Ausdruck - und deren Wut.
Der Hintergrund des Festivals, das macht der Film deutlich, war die explosive gesellschaftliche Atmosphäre nach den Morden an Malcolm X, Martin Luther King und den Kennedy-Brüdern. Das Festival, das der liberale weiße New Yorker Bürgermeister John Lindsay unterstützte, war dann ein friedliches Fest der schwarzen Community, doch auf der Bühne wurden auch politische Anliegen vorgetragen.
Zum Beispiel von Nina Simone. "To Be Young, Gifted And Black" singt sie positiv, doch im "Backlash Blues" klingt alles düsterer und kämpferischer. Da geht sie diesen "Mr. Backlash" an, den namenlosen Reaktionär, der für die Schwarzen zweitklassige Häuser vorsieht, zweitklassige Schulen, zweitklassige Leben.
Zeitgenössische Aufnahmen sprechen mit voller Wucht für sich
Auch wenn diese Aufnahmen ein halbes Jahrhundert lang herumlagen, sind sie also unverändert aktuell - zumal ja ein Mr. Backlash gerade erst mit hauchdünner Mehrheit aus dem Präsidentenamt gewählt wurde. Regisseur Questlove verzichtet aber auf plakative Hinweise zum Hier und Jetzt, auch zur "Black Lives Matters"-Bewegung, er lässt die zeitgenössischen Aufnahmen mit voller Wucht für sich sprechen, selbst als es um das heute so umkämpfte Feld der Sprache geht: In den späten Sechzigern etablierten Schwarze für sich die Bezeichnung "Black" anstelle des rassistischen N-Worts der Weißen.
Die Zerrissenheit der US-Bevölkerung demonstriert Questlove besonders toll in einer Montage von Zeitzeugen-Statements am Tag der Mondlandung. Alle weißen Stimmen: begeistert, euphorisch. Doch zehntausende schwarze Menschen gingen wie jeden Sonntag in kleinen Schritten zum Harlem Cultural Festival, während die Menschheit einen großen Sprung auf den Mond machte. Und vor der Fernsehkamera äußerten sie sich alle ähnlich: Warum müssen Amerikaner für Unsummen auf den Mond fliegen, wenn man mit diesem Geld so viele hungrige Menschen füttern könnte, gerade auch hier in Harlem?
Questlove montiert diese O-Töne brillant in einen Song der Staple Singers, ja er schneidet den ganzen Film mit dem Rhythmusgefühl des Top-Schlagzeugers. Wie ein gut arrangiertes Musikstück nimmt sein Film immer mehr Fahrt auf, sein politisches Anliegen wird immer drängender spürbar.
Und in der Coda machen Stimmen aus dem Off empört deutlich: Es kann nicht angehen, dass die schwarze (Kultur-) Geschichte weiterhin in großen Teilen ignoriert und damit ausgelöscht wird. So wie lange eben auch das Harlem Cultural Festival, dieses kulturelle Großereignis, das Questlove in einem grandiosen Film der Vergessenheit entrissen hat.
Als Stream bei Disney+
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