Lars von Triers "Nymphomaniac": Maxima Culpa und Vulva
"Nymphomaniac" - Teil 1" ist kein Porno, sondern eine wilde, intellektuelle, psychologische, kulturelle Diskussion über Sex ohne Liebe. Dabei wird dem Zuschauer von Lars von Trier einiges zugemutet.
In einer der irritierendsten Sequenzen lässt sich das Teenie-Mädchen Joe (Stacy Martin) von möglichst vielen Männern auf einer Zugfahrt vögeln. Es ist ein Wettspiel mit ihrer Freundin. Es ist die klare Absage an jegliche Romantik. „Vergiss die Liebe“ ist der Untertitel des Films.
Lesen Sie auch: Ein ganz besonders wertvoller Porno Joe (jetzt: Charlotte Gainsbourg) erzählt das 35 Jahre später teetrinkend als eine Episode ihres nymphomanen Sexlebens. Auf ihrer Bettkante sitzt ein älterer Herr mit einem traurig-bubenhaftem Gesicht. Er hat die Blaugeschlagenene und Zusammengetretene aufgelesen und zu sich nach Hause gebracht. Er wird für eine Nacht ihr intellektueller Beichtvater. Das ist der Rahmen von „Nymphomaniac“. Sex und Gewalt sind klassische Lars von Trier-Themen, die aber psychologisch und frei von politischer Korrektheit durchleuchtet werden, so dass daraus niemals ein billig voyeuristischer Film werden kann. Auch „Nymphomaniac“ – geschickt als Vierstunden-Porno mit hohem Erregungspotenzial angekündigt – ist keine Ausnahme.
Hässlicher Rammstein-Song und Krimi-Anfang
Ein hässlicher Rammstein-Song („Führe mich“) gibt anfangs einen Ton des Films vor, der aber ganz ruhig und regennass zwischen Backsteinmauern wie ein Krimi beginnt. Nach kurzer Zeit sagt Gainsbourg zum teigigen Mönchstyp am Bett einen provokativen Schlüsselsatz: „Ich bin ein schlechter Mensch.“ Aber er, der Humanist, glaubt nicht an eine generelle Verworfenheit des Menschen und verwickelt sie – das ist der Hauptstrang des Films – in Gespräche über die Psychologie und Kulturgeschichte der Lust, inklusiv religiöser Einordnung oder Biologie. Das Reiz-Reaktions-Schema wird mit dem Ködern beim Angeln verglichen. Aber diese Exkurse tragen immer auch ein ironisches Moment in sich. Überhaupt bricht Trier mit Lust gerade gewonnene Einsichten gleich wieder. Dass sich alle Lebensfragen am ausschweifend radikalen, freizügig in Rückblenden gezeigten Sexleben von Joe entzünden, verbindet Sex, Lust einerseits und Intellektualität.
Bachs Polyphonie für Polyandrie
Da wird Johann Sebastian Bachs Mehrstimmigkeit als Anleitung zum Sex mit verschiedenen Partnertypen herangezogen, wird das lateinische Schuldbekenntnis der „Maxima culpa“ zur „Maxima vulva“ umgedeutet, wird gezeigt, wie die Lust des Mannes auf eine junge Frau Ehen zerstört. Uma Thurman taucht hier als verzweifelte Verlassene auf, die für die Abrechnung in die Lasterwohnung die gemeinsamen Buben mitbringt. Und Shia LaBeouf ist der Ehemann, den sie liebt, aber mit dem sie keinen Orgasmus hat. Worin aber - außer expliziten Sexszenen – bestehen also die Provokationen von „Nymphomaniac“?
Trennung von Sex und Liebe
Anfangs in der von Sigmund Freud gestützten Behauptung, dass auch „unschuldige“ Kinder bereits eine körperliche Sexualität haben (von Trier zeigt das in einem irritierend-witzigen Froschschwimm-Spiel im unter Wasser gesetzten Badezimmer). Dann wird die radikale Trennung von Sex und Liebe durchgespielt. Lars von Trier beschreibt diese Abweichungen von bürgerlicher Romantik als Folge von Verzweiflung: „Meine Sünde ist, ich erwarte von jedem Sonnenuntergang mehr als andere“, sagt Joe. Enttäuscht versucht sie durch größere Härte etwas zu spüren. Dass „Nymphomaniac“ in zwei Teilen (3. April) zu je zwei Stunden ins Kino kommt, ist absurd. Denn die gesamten vier Stunden sind nie langweilig und sie ergeben wirklich erst zusammen einen irrwitzigen, radikal-gespannten Bogen.
Kino: ABC, Arri, Arena, Gabriel, Rio, City (dt. und OmU), Monopol, Isabella (OmU), Cinema (OV) B&R: L.v.Trier (D, 122 Min.)
- Themen:
- Ehe