Kenneth Branaghs "Belfast": Kindheit im magischen Realismus

Weit mehr als eine Kindheitserinnerung: Kenneth Branaghs "Belfast" ist ein Meisterwerk an Film- und Unterhaltungskunst.
Adrian Prechtel
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Kino als wunderbarer Ort: Jamie Dornan als "Pa", Caitriona Balfe als "Ma" und Buddy (Jude Hill) mit seinem älteren Bruder (Lewis McAskie).
Kino als wunderbarer Ort: Jamie Dornan als "Pa", Caitriona Balfe als "Ma" und Buddy (Jude Hill) mit seinem älteren Bruder (Lewis McAskie). © Rob Youngson / Focus Features /UPI

Belfast? Das klingt erst einmal nach "Troubles", dem verharmlosenden Wort der Briten für eine Zeit, die zeitweise Bürgerkriegsszenarien lieferte. Bei Kenneth Branagh hat der Name der nordirischen Stadt einen anderen Sound.

Gemeinschaftsidylle ohne Kitsch

Zur elegischen, gleichzeitig auch hymnischen Balladen-Musik von Van Morrison sehen wir im Überflug Belfast wie aus einem Städtereise-Clip: den Hafen, Denkmäler, auch heroisierende Wandbilder, warmfarbene Ziegelmauern – und über eine schaut jetzt die Kamera, macht dabei einen lässigen Zeitsprung, das Bild bekommt silbrigen Schwarzweiß-Glanz und wir sind in einer lebendigen Arbeiterstraße in den "swinging Sixties" – mit Kindern, die auf der Straße spielen, Mütter und Arbeitslose stehen rauchend vor ihren Häusern, Väter kommen von der Arbeit, Großeltern schauen aus dem Fenster: ein sympathisch kleinbürgerlich-proletarisches Milieu, eine irische Gemeinschaftsidylle ohne Kitsch.

Aber es ist der 15. August 1969: Gerade noch hatte die Kamera den neunjährigen Buddy umtanzt, seinen Blick die Straße entlang nach einer 360 Gradwendung wieder aufgenommen, als sich aus – auch wörtlich "heiterem Himmel" – die Stimmung blitzartig gedreht hat: Ein protestantischer Mob mit Schlagstöcken, Pflastersteinen und Molotowcocktails verwüstet die Häuser der katholischen Nachbarn: der Beginn von Barrikaden, Spitzelwesen, massiver britischer Militärpräsenz und der konfessionellen Entflechtung nicht nur dieses Belfaster Viertels, der Beginn der Frage "Gehörst Du zu uns oder denen?", die entscheidet über Prügel, gebrochener Nase oder Schlimmeres.

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Kenneth Branagh, der über Buddy (Jude Hill) seine eigene Kindheitserinnerung erzählt, gelingt ein Meisterstück: Denn es folgt kein Werk mit einem etwaigen Untertitel "Kindheit in Zeiten der Gewalt". Vielmehr ist "Belfast" ein tragikomischer, sympathisch nostalgischer und fast unschuldig leichter Film über Geborgenheit geworden, ohne jemals die vergiftende Bedrohungsspirale des Nordirlandkonflikts zu leugnen.
Buddys Vater (der als neuer Bond gehandelte Jamie Dornan) hat wenigstens Arbeit und ist in England am Bau, kommt dafür aber nur jedes zweite, manchmal wenigstens verlängerte Wochenende nach Hause, so dass Buddy und sein etwas älterer Bruder vor allem in der Obhut der liebevollen, tapferen Mutter (Caitriona Balfe) sind.

Und durch die – fast märchenhaften, doch wahrhaftig und lebendigen – Großeltern (Ciarán Hinds und Judy Dench) sind nebenbei auch noch Lebensweisheit, große Fragen nach der Kunst einer langen Liebe sowie Abschied, Tod und religiöse Bindungen eingebaut.

Junges Lebensgefühl, große Lebensfragen in den swingenden 60ern

Gegenwelten zur manchmal harten Realität sind Familie, Pub, Klassenzimmer, Tanzclubs – und das Kino, in dem Branagh ganz beiläufig Farbe aufschimmern lässt, als verheißungsvollen Wink in seine eigene Zukunftswelt, in der sich Branagh als Meister aller Genres erweisen wird.

Mit "Belfast" ist Branagh ein tiefsinniger Unterhaltungsfilm für alle gelungen, der es dabei auch noch schafft, Lebensfragen, Geschichte und Politik einzubauen – durch die heimlichen Streitgespräche der Eltern, die die Kinder natürlich doch irgendwie mitbekommen oder Fernsehnachrichten, die im kleinen Wohnzimmer laufen.

Dabei prägt den Film ein junges Zeitgefühl. Denn Branagh erinnert sich, wie er ein Junge mit jungen Eltern war. Dieser Buddy ist ansteckend fröhlich, spielerisch, auch staunend und lässt sich episodisch in ernstere Abenteuer verwickeln – an den Linien des Nordirlandkonflikts. Den erklärt der Vater nicht religiös, sondern als Machenschaft mafiöser Gangstern. Was zur Frage führt, ob man in seinem geliebten Umfeld, seiner Heimat bleibt oder aus wirtschaftlicher Not und in zunehmender Gefahr auswandern soll?

Wer "Belfast" sieht, wird dabei überwältigt und eingenommen von der Eleganz, mit der vieles angedeutet und alles subtil verwoben ist – bis hin zur Nebenfigur des Pfarrers. Der donnert einerseits demagogisch und erinnert so an den Protestantenführer Ian Paisley, wie er der Gemeinde die Hölle heiß macht, im nächsten Zug schon flapsig um Spenden bittet und nach einer liebevollen Beerdigung im Pub auch einen mittrinkt. Und als ein Nachbar auswandert, singt eine Frau angetrunken auf einem Stuhl an der Straße ein melancholisches Folk-Lied, darüber, dass alles, was ein Ire brauche, ein Telefon, ein Guinness und ein Notenbuch sind.

Mit alledem ist Belfast intensiv, rührend, wahrhaftig – und auch noch wunderschön. Und weil er sehr gut synchronisiert wurde, kann man ihn gut in der deutschen anstatt der dialektgefärbten irischenglischen Originalversion anschauen.


Kino: Leopold, Mathäser, City (auch OmU), Monopol (OmU) sowie Cinema, Isabella und Museum Lichtspiele (OV)
B&R: Kenneth Branagh
(GB, 99 Min.)

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