"Holy Spider" in Cannes: Nur kein Neo-Biedermeier!
Die Smokings und Abendkleider im abendlichen Blitzlicht sind selbst bei Galas nur etwas mehr als die halbe Wahrheit. Denn ein Drittel der 21 Wettbewerbsfilme hat seine Premiere am Nachmittag. Es sind die Filme, denen man mangels Staraufgebot und Thema weniger Promigäste zutraut.
Gastgeber Thiérry Frémaux vermeidet das exakte Protokoll
Und da sieht alles ganz anders aus. Man legt Pressevorführung und Gala zusammen, so dass im Grand Théatre Lumière T-Shirts und Sommerhosen dominieren. Die Fotografen dürfen auch lässig erscheinen.
Gastgeber Thiérry Frémaux vermeidet das exakte Protokoll, das ihm eine spezielle Choreografie vorschreibt. Abends geht es wie im Absolutismus zu, wo Hofmathematiker ausrechnen mussten, wie viele Stufen der Gastgeber dem Gast entgegenkommen muss, entsprechend der verschiedenen gesellschaftlichen Ränge.
So hat der in Schweden lebende Iraner Ali Abbasi eine nicht sehr glamouröse Premiere erlebt, aber befriedigend für ihn muss es sein, dass es für seine Vorführung am schwersten war, Karten zu besorgen. Auch an allen weiten Tagen ist "Holy Spider" überbucht - mehrere Branchenmagazine halten ihn für einen Favoriten.
Nach der 16. Toten misstraut eine Journalistin endgültig der Polizei
Es ist ein spannender Thriller um einen Frauenmörder, der ein bürgerliches Leben als Maurer führt, aber nachts Prostituierte vom Straßenstrich mitnimmt und erdrosselt. Nach der 16. Toten misstraut eine Journalistin endgültig der Polizei und beginnt investigativ zu ermitteln, wobei sie sich schließlich selbst zum Köder macht.
Wenn der Frauenmörder zum Volkshelden aufsteigt
Was klassisch klingt und auch so erzählt ist, hat aber eine brisante Implikation: Der Film spielt im Iran in der heiligen Stadt Maschhad und zeigt eine korrupte sexistische Polizei. Der Frauenmörder tötet wegen religiöser Reinheitsfantasien, womit er zum Volkshelden aufsteigt. Das verhindert fast seine Verurteilung, weil der religiöse Richter unter Druck gerät. Und so will der Gottesstaat Iran offiziell eben nicht gezeigt werden.
"Ein Film ist ein Schlag ins Gesicht, es ist kein verdammter Blumenstrauß"
Der Film wurde daher in Jordanien gedreht. Interessant wird die Begegnung am Mittwoch werden, wenn ein offiziell im Iran gedrehter Film, "Leilas Brüder", in Cannes seine ebenfalls nachmittägliche Gala haben wird. Ob man ihm die iranische Zensur anmerken wird?
Ali Abbasi kann nicht viel mit der Kinotradition seines Heimatlandes anfangen. Auch wenn er zu vielen Regisseuren von dort aufsehe, fühle er sich "nicht zu Hause im iranischen Kino", sagte der 41-Jährige am Montag in Cannes. "Und das liegt daran, dass alles so verdammt metaphorisch ist. Es gibt immer eine Blume im Wind, die ein Symbol für irgendeine verdammte Sache sein soll." Seine Definition vom Filmemachen: "Ich denke, ein Film ist ein Schlag ins Gesicht, es ist kein verdammter Blumenstrauß."
"Les Amandiers" ist eine Feier des Jungseins
Feierlich abendlich war wiederum die Gala des Films der Italienerin Valeria Bruni Tedeschi, der Schwester von Carla Bruni, die natürlich auch zur Premiere von "Les Amandiers" kam - und gegen das Selfieverbot am Roten Teppich verstieß, direkt neben Thiérry Frémaux, der fürs gemeinsame Foto dann auch süßsauer lächelte.

Der französische Film spielt 1986 in Nanterre bei Paris, als die Film- und Theaterlegende Patrice Chéreau (1944 - 2013) das Theater leitete - gespielt von Louis Garrel. Es geht um eine elitäre Theaterakademie, die strenge Auswahl und die Gruppendynamik der Studenten - zwischen Freundschaft, Kollegialität, Eifersucht, Me-too-Erfahrungen, Sex unter hypersensiblen, oft hysterischen Twens, unter denen einer in den Drogentod abgleitet. Es ist eine Feier des Jungseins - in Zeiten von Aids und Tschernobyl, was dem Sich-wichtig-Fühlen, Feiern und Vögeln keinen Abbruch tut.
Vielleicht ist das die Botschaft dieses mit Jungstars des französischen Kinos besetzten Films an heute: bitte kein Neobiedermeier! Vielleicht auch: nicht übertreiben mit Gender- und Sexismus-Nervosität, sondern einfach selbstbewusst sein! Und für alle heute deutlich Älteren ist es einfach Nostalgie.