Kritik

"Corsage": Gequälte Kreaturen

Vicky Krieps hat in Cannes als Kaiserin Sisi einen starken Auftritt, zu Tränen aber rührt das Schicksal eines Esels
Adrian Prechtel
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Die Kaiserin raucht, denn Sisi (Vicky Krieps) steckt in einer schweren Lebenskrise.
Die Kaiserin raucht, denn Sisi (Vicky Krieps) steckt in einer schweren Lebenskrise. © Foto: Alamode Film

Wie zum Trost für die der Absenz der Deutschen im Wettbewerb und in der Nebenreihe "Un certain regard" hat Festivaldirektor Thierry Fremaux aus Versehen den Sisi-Film "Corsage" der Österreicherin Marie Kreutzer in der Gala-Präsentation zum "deutschen" Film erklärt. Die wiederum nahm's - im Gegensatz zu einigem Ösi-Gemaule im Publikum - ohne Widerrede hin. Vielleicht auch, weil deutsches Geld in der Produktion mit Vicky Krieps steckt.

Kreutzer aber erklärte auf Englisch ihren Film mit der feministischen Aussage, es ginge "um eine Frau, die so gesehen werden will, wie sie ist". Was wohlfeil ist. Dann ergänzte sie: "Frauen müssen immer gefallen, um geliebt zu werden."

Was dann für zwei Stunden auf der Leinwand passierte, war um ein Vielfaches besser, als man nach den Einführungssätzen erwartet hätte: "Corsage" ist ein historischer Film, dem es gelingt, die komplizierte Psyche der Kaiserin Elisabeth einzufangen.

Um ihren 40. Geburtstag herum bemerkt die Kaiserin ihr Alter, die zunehmende Entfremdung von ihren Kindern, die die höfischen Rollen eher akzeptieren, die Unmöglichkeit, Liebhaber zu haben, wegen möglicher Skandale. Es ist eine krasse Midlife-Crisis, die sich lange ankündigt hatte und zur Todessehnsucht führt. Marie Kreutzer macht aber nicht den Fehler einer sentimentalen Heiligsprechung.

Opfer von Narzissmus und Egoismus

Dazu sind die Figuren um Elisabeth herum auch zu stark Opfer ihres Narzissmus und Egoismus. Kaiser Franz Joseph ist ein zu sympathischer, liebender, wenn auch befangener und etwas kleingeistiger Typ. Und so ergibt sich eine spannende Sympathieunschärfe beim Zuschauer.

Bei alledem erlaubt sich der Film auch ganz sanft ahistorische Details: Traktoren sowie die Geburt des Kinos kommen vor, ein Stones-Song wird auf der Harfe gespielt, jemand zeigt einen "Fuck"-Finger. Aber das sind hier keine Brüche, sondern nur sanfte Gegenwartsverweise.

Dass das Filmfest München Ende Juni mit diesem Film eröffnen wird, ist ein Glücksgriff: "Corsage" wirkt modern, kunstvoll, intelligent - und hätte unbedingt in den Wettbewerb gehört, auch weil seit Jahren der Vorwurf im Raum steht, zu wenige Regisseurinnen hätten in Cannes eine Chance.

Im Wettbewerb selbst präsentierte der 86-jährige, polnischer Regisseur Jerzy Skolimowski einen Film, der alte Connaisseure filmtrunken applaudieren ließ, weil "EO" (was wiehernd "I-Ah" heißt) eine Hommage an Robert Bressons Film "Zum Beispiel Balthasar" (1966) ist - ein Film über das Leben eines Esels, der von einem Besitzer zum anderen wechselt und dabei fast nur Grausames erlebt.

Skolimowski verändert die minimalistische Vorlage ästhetisch radikal - mit Eseltraumsequenzen, einer Überakustik, die das sensible Gehör des Tieres nachvollziehbar macht und einer farblich leicht verschobenen Wahrnehmung. Am Ende ist man zu Tränen gerührt und erschüttert.

Aufruf zu mehr Menschlichkeit im Umgang mit Tieren

Jerzy Skolimowskis Begründung für sein Alterswerk ist zwingend: ""Balthasar' war der einzige Film, in dem ich je eine echte Träne vergossen habe." Wenn 1966 der Esel in Kritiken noch als Symbol für das menschliche Leben gesehen wurde, kann heute das Tier einfach für sich stehen und als geschundene Kreatur uns zu mehr Menschlichkeit im Umgang mit Tieren aufrufen.

Von diesem Kunstfilm wurde man von der Wettbewerbsdramaturgie in einen harten Kontrast geführt, auch wenn am Ende wieder aufgewühlte Rührung stand. Diesmal im großen Hollywoodstil mit Anne Hathaway und Anthony Hopkins, der allerdings nicht mit Regisseur James Gray an die Cote d'Azur reiste.

"Armageddon Time" heißt der Film - etwas apokalyptisch, wenn er auch die Verwüstungen von Neoliberalismus zeigt. Dieser entsprach dem Zeitgeist des Jahres 1980, als Ronald Reagan gewählt wurde, was auch in TV-Nachrichten und Sendungen immer wieder als Hintergrund durchschimmert.

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Direkter Bogen in die Gegenwart 

Im Vordergrund geht es um einen 12-jährigen, künstlerisch begabten Jungen, der in der öffentlichen Schule im gemischten Stadtteil Queens einen schwarzen Freund hat. Der Ehrgeiz der jüdischen Eltern und der Rassismus des Systems wird die beiden trennen.

James Gray lässt subtil und psychologisch überzeugend die verschiedenen Familienbiografien durchscheinen, die jede Handlung verständlich macht, wenn auch nicht moralisch richtig. Am Ende geht es um die Erkenntnis, dass "das Leben nicht fair ist", wie der Großvater (Hopkins) erklärt, "und dass man kämpfen muss".

Davon erzählen auf Schulveranstaltungen auch Fred C. Trump und Mary Anne MacLeod - Selfmade-Millionäre und die Eltern von Donald Trump. So ergibt sich ein direkter Bogen in die Gegenwart. Hier hat sich früh schon ein Film für die kommende Oscarverleihung in die Startposition begeben - auch mit dem Jungschauspieler Michael Banks Repeta.

So überzeugt Cannes nach den ersten Tagen als ein unglaublich verdichteter Ort der aktuellen Filmkunst und gesellschaftlichen Diskussionen im Spiegel des Kinos.

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