"Ein Leben": Unser Glaube an das Gute

München - Mit der Verfilmung von Guy de Maupassants erstem Roman "Ein Leben" von 1883 begibt sich Stéphane Brizé nach "Der Wert des Menschen", in dem er das sozial kalte Frankreich von Heute brandmarkt, auf neues Terrain: In die Normandie des 19. Jahrhunderts. Das Drama zeichnet das Schicksal einer jungen Adeligen, die von der Liebe träumt und nach der Heirat mit einem verarmten Viscount Enttäuschung und gesellschaftlichen Abstieg erlebt.
AZ: Monsieur Brizé, Ihr letzter Film "Der Wert des Menschen" spiegelte die aktuelle Krise in Frankreich. Jetzt verfilmen Sie eine Vorlage von Guy de Maupassant aus dem 19. Jahrhundert. Gibt es da Verbindungen?
STEPHANE BRIZÉ: Beide Filme entstanden kurz hintereinander. Sich mit dem Schicksal einer jungen Frau im männerdominierten 19. Jahrhundert zu beschäftigen, mag seltsam klingen. Trotz der ganz anderen Epoche haben beide Protagonisten, der arbeitslose Thierry heute und die Jeanne in einem Schloss in der Normandie, etwas gemeinsam: Beide sind Idealisten und Verfechter einer großen Humanität und Individualität, die sich gegen Widerstände behaupten muss. Meine Heldin glaubt, der Mensch sei gut. Das mag naiv oder kindlich scheinen, ist aber bewundernswert. Sie will die Schönheit des Lebens sehen, auch wenn sie im Innern dem Verlust des Paradieses ihrer Kindheit nachtrauert.
Teilen Sie diese idealistische Sicht auf die Welt?
Ich bin Filmemacher und kann nur persönliche Filme realisieren, verlasse mich dabei auf meine Emotionen. In diesem Sinne teile ich die Ideen meiner Filmfiguren. Im Alter von 30 Jahren habe ich gemerkt, dass ich etwas blauäugig durchs Leben laufe und bin dann realistischer geworden, ohne meine Kindheitsträume zu verraten. Die Ernüchterung kommt sowieso unweigerlich. Vielleicht bin ich deshalb Filmemacher geworden. Das Kino ermöglicht mir, künstlerisch und politisch zu agieren, ohne in das Fahrwasser von Produzenten zu kommen, die aus Geldgier jeden Mist produzieren.
Warum haben Sie ausgerechnet diesen Roman von Maupassant verfilmt?
Weil ich mich der Heldin sehr verbunden fühle. Ich hatte das Gefühl, diese Geschichte wurde speziell für mich geschrieben. Maupassant hat sicher nicht die gleiche Vorstellung wie ich gehabt oder wie jetzt der Zuschauer. Jeder entdeckt etwas anderes. Den Verlust von Illusionen aber habe ich selbst erlebt, bin jung mit Verlogenheit und Vertrauensverlust konfrontiert worden.
Ist die junge Frau eine moderne Figur oder dem Gestern verhaftet?
Jeanne unterwirft sich nicht, sie folgt einer Utopie und das führt zum Drama. Sie ist nicht jemand, der nur vor sich hin leidet. Die Geschichte reduziert sich nicht auf die Bedingungen, unter denen eine Frau im 19. Jahrhundert lebt. Das hätte mich auch nicht interessiert, weil ich die Beziehung zu unserer Zeit brauche. Diese weibliche Figur ist zeitlos.
Wo lag der Knackpunkt?
Nach "Mademoiselle Chambon" ist "Ein Leben" meine zweite Literaturadaption. Als Regisseur kann ich nie der Vorlage ganz treu sein. Manchmal muss man rigorose Einschnitte machen und das Literarische zugunsten des Filmischen ändern. Bei Maupassant fand ich es kompliziert, die erzählerische Struktur beizubehalten, dabei aber die literarische Kraft in die kinematografische Kraft zu integrieren.
Was ist der größte Unterschied zwischen Buch und Film?
Die Perspektive: Ich setze ganz konsequent auf die weibliche. Dafür mussten wir einiges abwandeln. Adaption heißt nicht umsonst übersetzt "Inbesitznahme". Literatur und Film bedienen sich unterschiedlicher Mittel. Schon der Einsatz von Rückblenden existiert nicht im chronologisch aufgebauten Roman. Die Handlung musste eine Dynamik entwickeln und ich habe dabei mit schlechtem Gewissen Maupassant irgendwie verraten. Man will dem Schriftsteller gerecht werden und doch seine eigene Vision verwirklichen. Ein ziemlicher Zwiespalt.
Montag, 18 Uhr, Sendlinger Tor und morgen, Di, 21.30 Uhr, Rio