Kritik

"Der vermessene Mensch" im Kino: Grausame Linien bis ins Heute

Lars Kraume gelingt mit "Der vermessene Mensch" ein filmisch und psychologisch meisterhaftes Werk über Rassismus und den deutschen Kolonialismus.
Adrian Prechtel
Adrian Prechtel
|
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Glaubt an die Gleichheit der Menschen in rassistischen Zeiten und lässt sich am Ende doch korrumpieren: Der Ethnologe Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) lernt 1896 Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) kennen und erkennt in ihr mehr als eine "edle Wilde".
Studiocanal Glaubt an die Gleichheit der Menschen in rassistischen Zeiten und lässt sich am Ende doch korrumpieren: Der Ethnologe Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) lernt 1896 Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) kennen und erkennt in ihr mehr als eine "edle Wilde".

"Der Kaiser empfängt die Wilden" – so titeln 1896 Zeitungen. Anlässlich der Völkerschau im Treptower Park sind auch Nama und Hereros nach Berlin gebracht worden – unter ihnen auch Prinzen und Prinzessinnen. Tagsüber posieren sie in Stammestracht in Schaubuden, abends sind sie wieder europäisch angezogen in ihren Unterkünften unter sich.

Regisseur Kraume balanciert den Ausgangspunkt seiner Geschichte subtil aus

Ein junger Ethnologe (Leonard Scheicher) klopft neugierig an. Er, Alexander Hoffmann, glaubt selbst nicht an ein rassistisches Menschenbild. Er sieht sich in der aufklärerischen Tradition, "im Geiste Alexander Humboldts" und glaubt nur an kulturelle Unterschiede zwischen "Rassen".

Aber automatisch verfällt er gleich wieder in die Rolle des Fordernden: Er wolle den anwesenden Hereros "wissenschaftliche Fragen stellen". Sofort weist ihn elegant und selbstbewusst die schwarze Dolmetscherin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) darauf hin, dass er hier unter ihnen nicht Herr, sondern Gast sei, und sein Ansinnen erst besprochen werden müsse. Aber er wird gleich zum Kartenspiel "17 und 4" eingeladen, ohne Verbrüderung.

"Der vermessene Mensch" basiert auf Timms Geschichtsroman "Morenga"

Regisseur Lars Kraume balanciert hier bereits den Ausgangspunkt seiner Geschichte elegant und subtil aus. Er stellt, indem er die aktuelle Diskussion um unsere oft unreflektierte eurozentrische Weltsicht und den Umgang mit fremden Kulturen einbaut, ein Gleichgewicht auf Augenhöhe her.

Kraume hat sich schon in "Der Staat gegen Fritz Bauer" (2015) mit der Verdrängung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik sowie in "Das schweigende Klassenzimmer" (2018) mit dem Totalitarismus der DDR auseinandergesetzt. Für "Der vermessene Mensch" legte er jetzt den dokumentarischen Geschichtsroman "Morenga" von Uwe Timm zugrunde. Timm hatte 1978 noch den Freiheitskämpfer der Herero, Jakob Morenga, zur Titelfigur gemacht.

Man erlebt den niederschmetternden Niedergang eines Idealisten,

Heute, 45 Jahre später, behält Kraume als deutscher Regisseur den europäischen Blick bei und nimmt in seinem Film über den Völkermord an den Nama und Hereros in der deutschen Kolonie Südwestafrika letztlich die Täterperspektive ein. Neben der schonungslosen Darstellung von Massakern und Massenmord tritt aber auch die große Würde, die Kraume in seiner Darstellung Vertretern der Herero gibt - allen voran in der zweiten Hauptfigur Kezia.

So werden wir mit dem anfangs liberalen Hoffmann erst nur zum Zeugen zunehmender Grausamkeit in einem Vernichtungskrieg. Dann aber klebt zunehmend Blut auch an den Händen Hoffmanns selbst, der als Karrierist und letztlich doch Kind seiner Zeit seine Liberalität und Humanität aufgibt. Man erlebt den niederschmetternden Niedergang eines Idealisten, dessen Ehrgeiz und Desillusionierung ihn - wider besseren Wissen - zum charakterlosen Opportunisten machen.

Lesen Sie auch

Lesen Sie auch

Es ist – neben der rassistischen Gewalt – diese Abwärtsbewegung, die den Zuschauer tief erschüttert und zum Nachdenken zwingt. Und Hoffmann wird letztendlich – mittlerweile in den 1920er-Jahren und Professor – im Hörsaal die "weiße Herrenmenschen"-Theorie vertreten.

So schlägt Kraumes Film geistig die Brücke vom 19. Jahrhundert über die Barbarei der NS-Diktatur bis zu heutigen Fragen der Restitution von menschlichen Knochen und Kultgegenständen aus europäischen Sammlungen.

"Der vermessene Mensch" ist eine auch psychologisch meisterhafte Geschichte

Der doppeldeutige Titel "Der vermessene Mensch" ist dabei in einer frühen, vieles komprimierenden Szene auch ganz konkret gefasst: bei in einer Schädelvermessung der Delegationsmitglieder aus Hereros und Nama durch Ethnologiestudenten. Hier mischen sich die Vermessenheit des europäischen Überlegenheitsdenken, völlige Insensibilität und Demütigung - und im Falle Alexander Hoffmanns auch erotisches Begehren gegenüber Kezia.

So ist "Der vermessene Mensch" eine filmisch, psychologisch und dramaturgisch meisterhafte Geschichte, an deren Ende das deutsche Militär, die angeblich neutrale, aufklärerische Wissenschaft und letztlich die gesamte Gesellschaft jegliche Unschuld verloren haben.


Kino: City, Leopold, Monopol. Regie: Lars Kraume (Deutschland, 116 Minuten)

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.